Süddeutsche Zeitung

Syrien: Geheime Atomfabrik:Verdächtige Gebäude in bester Wohnlage

Westliche Geheimdienste vermuten, dass Syrien in einem Vorort von Damaskus eine geheime Atomfabrik gebaut haben könnte. Überprüfen lässt sich das nach einem israelischen Bombardement schwer.

P.-A. Krüger

Die Wahrheit über el-Kibar liegt unter einer mächtigen Betonplatte begraben. Und damit schienen alle Beteiligten bisher auch gut leben zu können: Syrien, das im Verdacht steht, an diesem Ort am Euphrat einen geheimen Atomreaktor zur Produktion von Plutonium errichtet zu haben; Israel, das den mysteriösen, quaderförmigen Bau im Osten Syriens in der Nacht vom 5. auf den 6.September 2007 bei einem Luftangriff zerbombte; und auch die USA, vorab über die Attacke ins Bild gesetzt, schwiegen monatelang.

In der Zwischenzeit hat Syrien die Reste der Ruine eingerissen, ohne dass jemand hätte prüfen können, was dort vorgegangen war - und ob Syrien den Atomwaffensperrvertrag gebrochen hat. Das erste öffentlich zugängliche Satellitenbild zeigt das Gelände sieben Wochen nach dem Angriff: Es ist planiert, und wenig später begann Syrien damit, ein 60 mal 60 Meter großes Fundament aus Beton zu gießen. Seit Januar 2008 stand darauf eine Halle mit blauem Dach, 13 Meter breiter und länger als der angebliche Reaktor.

Syriens Präsident Baschar al-Assad hat vehement bestritten, das es sich bei dem zerbombten Komplex um eine Atomanlage gehandelt hat: "Definitiv nicht!", sagte er jüngst dem Wall Street Journal. Damaskus beharrt darauf, el-Kibar sei eine normale militärische Einrichtung gewesen. Und Assad kritisierte die USA dafür, acht Monate gewartet zu haben, bis sie Anschuldigungen gegen sein Land erhoben.

Erst im April 2008 hatte die CIA mit einer Video-Präsentation zunächst den US-Kongress und später die Medien darüber informiert, dass es sich bei dem von Israel zerbombten, auch als Dair as-Saur bezeichneten Komplex um einen Reaktor gehandelt habe, mit dem womöglich spaltbares Material für Atomwaffen erbrütet werden sollte. Um ihre Behauptungen zu untermauern, präsentierten die Geheimdienstler grisselige Satellitenbilder und bunte Animationen, die zeigten, wo in dem Quader sich vor der Bombardierung welche Reaktorteile befunden haben sollen. Auch zeigten sie Bilder, die aus dem Inneren des Gebäudes stammen sollen.

"Keine Priorität"

Doch selbst nachdem Washington sein Schweigen gebrochen hatte, sah sich offenbar niemand zur Eile genötigt, das Geheimnis in der Wüste aufzuklären. Israel schweigt beharrlich zu dem Angriff, auch weil er gegen internationales Recht verstieß. Die USA versuchten vor allem, die Hinweise als Hebel zu nutzen, um die Syrer von ihren Verbündeten in Teheran loszueisen und Iran - seinerseits unter Verdacht, an Atomwaffen zu arbeiten - in der Region zu isolieren. Doch auch nachdem in Barack Obama Anfang 2009 ein Präsident ins Weiße Haus einzog, der sich den Kampf gegen die Verbreitung von Atomwaffen auf die Fahnen geschrieben hat, erklärte der neu entsandte US-Botschafter bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien noch, die Aufklärung der syrischen Aktivitäten habe "keine Priorität". Die Europäer hofierten Assad ebenfalls - in der Hoffnung, ihn zu einem Seitenwechsel bewegen zu können.

"Sie haben es zerstört und gewartet, bis Syrien es wieder aufgebaut hatte", empört sich Assad über Israels Attacke auf das mysteriöse Gebäude und das Schweigen der Amerikaner. "Dann sagten sie, es sei eine Nuklearanlage gewesen. Nun, ,gewesen', wie können sie beweisen, was gewesen ist?", fragt er. Allerdings: So abwegig, wie es der Präsident darzustellen versucht, ist das Unterfangen nicht. Die IAEA hat kurz nach den US-Enthüllungen mit der Spurensuche begonnen, und derzeit scheitert sie vor allem daran, dass Syrien jeden Zugang nach el-Kibar verweigert - und auch zu drei weiteren Orten, die nach Auffassung der IAEA in "funktioneller Verbindung" mit dem zerbombten Komplex stehen sollen. Intern sind diese Objekte bei der Wiener Behörde unter den Namen der Orte Marj as-Sultan, Masyaf und Iskandariyah geläufig.

Zunächst könnten die Trümmer des zerstörten Komplexes nahe Dair as-Saur wertvolle Spuren bergen. Ein Team um den einstigen Chefinspektor der IAEA, Olli Heinonen, fand im Juni 2008 beim einzigen Besuch der Behörde auf dem Gelände nach der Planieraktion der Syrer immerhin kleine Mengen Uran, das von Menschen hergestellt war. Syrien erklärte, es stamme von den israelischen Bomben - was die Inspektoren als "unwahrscheinlich" zurückweisen. Doch weiß die IAEA offenbar nicht, wo die Trümmer des angeblichen Reaktors geblieben sind. "Wir haben den Schutt genommen und woandershin gebracht", sagt Präsident Assad.

Wie eine Person mit Kenntnis der Satellitenbilder aus der Zeit direkt nach dem israelischen Angriff der Süddeutschen Zeitung erklärte, liegt jedoch zumindest ein guter Teil der Reste des Reaktorbaus unter dem Fundament der neuen blauen Halle. Die Syrer haben dieser Beschreibung zufolge Ausrüstungsgegenstände aus der Ruine entfernt, Computer etwa oder möglicherweise auch eine Maschine, mit der einmal die Brennelemente in den Reaktorkern hätten eingesetzt werden sollen. Manches davon soll nach Iskandariyah gebracht worden sein - ohne dass bekannt ist, wo genau ein mögliches Lager dort liegt. Dann aber sprengte Syrien im Oktober 2007 das teils unterirdisch gelegene Reaktorgefäß und füllte den Schutt des Gebäudes in den entstandenen Krater. Bulldozer, die in späteren Satellitenaufnahmen klar zu erkennen sind, schoben Erdreich aus dem umliegenden Gebiet über die Stelle, an der einst der Quader stand. Und wenig später versiegelte der Beton die möglichen Beweise.

Damaskus ist bislang der Bitte von IAEA-Chef Yukia Amano nicht nachgekommen, die Kontrolleure erneut auf das Gelände zu lassen. Amano hatte deswegen Mitte November 2010 eigens einen Brief an den syrischen Außenminister Walid al-Muallim geschrieben, ein einmaliger Vorgang. Doch haben die Syrer immer noch "nichts Konkretes" zugesagt, wie es aus Diplomatenkreisen in Wien heißt. Nur allgemein ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit hätten sie bekundet. Ganz und gar unwahrscheinlich erscheint es daher, dass Syrien den Kontrolleuren etwa erlauben würde, mit einer Bohrung unter dem neuen Gebäude nach Hinweisen zu suchen, wie es Geheimdienstler für nötig halten.

Mehr Glück könnten die Atomdetektive dagegen in Marj as-Sultan haben, 15 Kilometer östlich von Damaskus. Dort befindet sich ein Komplex mit zwei Hauptgebäuden, der an einen Militärstützpunkt grenzt. Genau das führt Syrien als Begründung an, warum es eine Inspektion nicht zulassen könne. In der Umgebung wohnen offenbar betuchte Syrer, Villen lassen sich auf den Satellitenfotos erkennen, Swimmingpools in fast jedem Garten. Und anders als in al-Kibar stehen die verdächtigen Gebäude hier noch, die zumindest in früheren Jahren von einer Mauer umgeben waren.

Der SZ liegen Fotos vor, die aus dem Inneren der beiden Bauten stammen sollen. Es ist nicht bekannt, wann genau sie aufgenommen wurden. Zusammen mit anderen Informationen aber lassen sie erstmals die begründete Vermutung zu, dass Syrien dabei war, dort eine Anlage zur sogenannten Urankonversion zu errichten - eine Vorstufe zur Produktion von Brennstäben, wie sie für den mutmaßlichen Reaktor geeignet gewesen wären. In einem chemischen Prozess wird dabei Uran-Konzentrat - auch Yellow Cake genannt - in metallisches Uran umgewandelt, das dann zu Brennelementen weiterverarbeitet werden kann. Dies könnte ein wichtiges Teil in dem verwirrenden Puzzle sein, das die IAEA-Inspektoren seit bald drei Jahren zusammenzusetzen versuchen.

Die Fotos sind westlichen Geheimdiensten bekannt und mindestens in Teilen auch der IAEA. Die SZ hat sich bereiterklärt, die Aufnahmen nicht zu veröffentlichen, weil sie eventuell Rückschlüsse darauf zulassen, wann sie gemacht wurden - und somit auf mögliche Quellen. Die Anlagen waren zu dem Zeitpunkt zwar zum Teil installiert, manche Ausrüstungsgegenstände wurden aber gerade erst montiert. Die Atombehörde, die in den kommenden Tagen ihren neuesten Bericht zu Syrien vorlegen wird, lehnte ein Stellungnahme ab. Die meisten anderen Quellen - Geheimdienstler, Diplomaten oder Experten - bestanden auf Anonymität.

Die Bilder aus dem kleineren Gebäude zeigen chemische Apparaturen dem Anschein nach aus Edelstahl, wie man sie nach Aussage eines westlichen Geheimdienstmitarbeiters "in einer Urankonversionsanlage erwarten würde". Ein unabhängiger Experte bewertete die Informationen über die Ausrüstung ähnlich. Die Fotos zeigen etwa eine säulenförmige Apparatur, gut eineinhalb Stockwerke hoch, mit der vermutlich Verunreinigungen aus dem Uran entfernt werden sollten. Ähnliche Technik gibt es in der iranischen Konversionsanlage Isfahan. Dagegen wird sie in Nordkorea nicht eingesetzt, wie ein Experte sagte, der den nordkoreanischen Nuklearkomplex in Yongbyon gut kennt.

Fotos aus dem anderen, größeren Gebäude zeigen einen Gaswäscher und spezielle Anlagen zur Reinigung von Abluft, wie sie unter anderem benötigt werden, um Uranpartikel und gefährliche Chemikalien auszufiltern, die beim Produktionsprozess entstehen, vor allem Fluorverbindungen. Zudem gibt es nach Angaben eines westlichen Geheimdienstlers "Verbindungen" zwischen el-Kibar und Marj as-Sultan. Offenbar wurden dieselben Personen an beiden Orten gesichtet oder Transporte zwischen den Anlagen beobachtet.

Eine weitere Person, die mit den Fotos vertraut ist, deutete an, dass die Anlage möglicherweise auch zur Produktion von Brennelementen dienen sollte. Fotos von speziellen Öfen, wie sie für diesen Prozess nötig wären, fehlen jedoch bisher. Ein europäischer Geheimdienstler gab sich denn auch vorsichtiger: Er sagte, die auf den Aufnahmen erkennbaren Geräte seien zwar für die Urankonversion geeignet, ließen aber nicht zwingend auf eine solche Verwendung schließen.

Ob sich die Apparaturen noch in Marj as-Sultan befinden, ist fraglich. Denn nachdem die IAEA im Mai 2008 Zugang verlangt hatte, zeigen Satellitenbilder von Ende Juli plötzlich auffällige Aktivitäten um die beiden Gebäude. Es sind weiße Objekte zu erkennen, wahrscheinlich Lastwagen. Nach Angaben der IAEA wurden nach ihrer Anfrage bezüglich der drei Orte dort "große Container" weggeschafft und zudem Veränderungen an dem Gelände vorgenommen - in Marj as-Sultan wurde offenbar der Bodenbelag ausgetauscht oder erneuert. Wie in el-Kibar und auch in Masyaf rief das den Verdacht hervor, die Syrer hätten versucht, Spuren zu verschleiern. Es kann sich auch um einen Zufall handeln. Zumindest aber verlangten die Inspektoren eine "Erklärung für diese Aktivitäten" - bis heute vergebens.

Trotz dieser Indizien bleiben manche Experten weiter skeptisch. Der frühere IAEA-Inspektor Robert Kelley etwa bezweifelt, dass Syrien eine Urankonversionsanlage in unmittelbarer Nähe eines gehobenen Wohnviertels errichten würde. "Warum sollte man so was mitten in Beverly Hills bauen, wenn man Tausende Quadratkilometer Wüste zur Verfügung hätte?", fragt er. Das Risiko, in einer besiedelten Gegend aufzufliegen, ist zweifellos größer. Vielleicht aber wollte Syrien durch die Standortwahl vor allem vermeiden, dass die beiden Gebäude in Marj as-Sultan von Spionagesatelliten aufgespürt werden - nahe einem Militärdepot würde man zum Beispiel Transporte erwarten.

Wenn überhaupt, wird sich all das wohl nur noch klären lassen, wenn Syrien die IAEA-Inspektoren das Gelände untersuchen lässt. Aber auch Damaskus scheint kein Interesse daran zu haben, das Geheimnis von el-Kibar endlich zu lüften.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2011/segi
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