Der Mann schaut sich um im leeren Café, setzt sich an einen der hintersten Tische, scannt den Raum mit unruhigen Augen. Er steht auf, setzt sich um, nun mit dem Rücken zu der winzigen Kamera, die er in einer Ecke unter der Decke entdeckt hat. Der Mann zieht die Kapuze über den Kopf. Er kennt und versteht das System. Er weiß, dass all diese Technik den neuen Herrschern in die Hände fällt, sie schon bald gegen Menschen wie ihn eingesetzt werden wird. „Alles ist überwacht. Alles. Überall.“
Da sitzt Rami Habib, die Augen fast verdeckt von der Kapuze, und erzählt mit sehr, sehr leiser Stimme. Vielleicht ist es das schlechte Gewissen, vielleicht auch nur die Angst vor Mithörern, Mikrofonen, Mitschnitten. Von einer Kindheit in Armut und ständiger Angst vor Schlägen und Schlimmerem in dem Dorf Qardaha, aus dem die Assad-Familie stammt. In dem selbst die entferntesten Angehörigen der Herrscher-Familie alle terrorisierten, ihnen die Mopeds, die Autos und die Frauen wegnahmen. Von seinem Versuch, Jura zu studieren, der misslang. Der ihn als Alawiten aus dem Assad-Geburtsort zwangsläufig auf die Militärakademie führte. Kein Geld war da für irgendetwas anderes, eine andere Ausbildung, einen anständigen Beruf.
„Ich möchte die Gelegenheit nutzen, etwas loszuwerden“, sagt Habib nach dieser länglichen Einstimmung. Seine dürftige Botschaft wird schnell klar. Rami Habib, Hauptmann beim gefürchteten Militärgeheimdienst in Damaskus, konnte nicht anders. Er musste mitmachen. Eigentlich wollte er all das nie. Die Bespitzelung, die Folter, die erzwungenen Geständnisse, die die Grundlage bildeten für ein Urteil gegen „die Politischen“ vor einem Militärgericht, das zum Galgen führte oder zu jahrelangem Siechtum in den überfüllten Zellen des Horror-Gefängnisses Saidnaya. Eigentlich, das ist die Botschaft an diesem Morgen im Café, war Rami Habib selbst ein Opfer.
Der Geheimdienst-Hauptmann muss nun um sein Leben bangen
Der 37-jährige Alawit heißt nicht Rami Habib. Der Geheimdienst-Hauptmann muss nach dem Sturz der Diktatur wie Zehntausende andere Henkersgesellen des Regimes um sein Leben bangen. Deshalb sucht er sich einen anderen Namen aus: Habib ist ein arabischer Allerweltsname. Er bedeutet Liebling.
Wie viele verzweifelte Menschen Habib gesehen haben in all den Jahren auf den dunklen Gängen und in den stickigen Zellen seines Dienstsitzes am Militärflughafen Mezzeh bei Damaskus, das kann er nicht sagen. Er weiß nur, dass es sehr viele waren. Zu viele – falls sie überhaupt leben: Er war seit 2009 beim Geheimdienst.
Der Hauptmann rechnet nicht mit fairen Prozessen, sondern mit der Vergeltung der Sieger. Gut eine Woche nach dem Sturz des Assad-Regimes sucht er Verständnis. Die Welt müsse doch verstehen, wie das System funktioniert hat. Ein System, aus dem es nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter, für einen Alawiten wie ihn, keinen Ausweg gab. Dem Täter Rami Habib geht es um Gerechtigkeit. In erster Linie für sich selbst, nicht für die Opfer.
Habib erzählt bruchstückhaft von der technisch ausgeklügelten Telefonüberwachung, der lückenlosen Bespitzelung, der fein abgestuften, systematisch gesteigerten Menschenquälerei und Folter. Begonnen mit der Nacht in der kalten Einzelzelle und dem eiskalten Wasser, mit dem der Wehrlose übergossen wurde. Natürlich habe er selbst nie jemanden eigenhändig gedemütigt, nie einen in einen von der Decke hängenden Autoreifen gezwängten Menschen mit Stöcken und Kabeln geschlagen, nie den Trafo mit den Stromkabeln bedient. Sagt er. Bei denen, die während des Aufstands eine Waffe getragen, geschossen hätten, hätte das Urteil aber ohnehin festgestanden. Er meint den Galgen.
Die Folterer der Geheimdienste kannten zig unterschiedliche Martermethoden
Man kann, aber man muss ihm das alles nicht glauben. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schreibt in einem ihrer Syrien-Berichte, dass die Folterer der Geheimdienste 31 unterschiedliche Martermethoden nutzen. Nach 13 Jahren Bürgerkrieg dürften es noch weit mehr sein. Irgendjemand muss es also gewesen sein, und wenn nicht Habib selbst, dann war er in der zweiten Reihe dabei. Amnesty kommt zu dem nahe liegenden Schluss: „Wer in Syrien Folter anordnet oder anwendet, darf keinen Zweifel daran haben, dass er eines Tages vor Gericht gestellt wird.“
Jetzt ist die Diktatur gestürzt. Der neue starke Mann Syriens, der frühere Dschihadist Ahmed al-Scharaa, hat angekündigt, alle Folterer zur Rechenschaft zu ziehen. Vor anständigen Gerichten, wie er verspricht. Männer wie Rami Habib werden ihm das kaum glauben. Dazu haben sie selbst zu viele ihrer Gegner gequält, zum Galgen geschickt.
Islamisten standen unter den Feinden und Opfern des Regimes ganz oben. Lange schon vor dem Aufstand von 2011, der Revolution, dem Bürgerkrieg – unter Assad-Vater Hafis und Assad-Sohn Baschar. Jetzt sind eben diese Männer selbst an der Macht; es sind nur Männer, keine Frau ist dabei in der Islamistenführung, das versteht sich.
Rami Habib war Täter, egal, wie klein seine Rolle war, was genau er getan hat. Das kann er als Hauptmann des berüchtigten Luftwaffen-Geheimdienstes schlecht bestreiten. Er kann seine Rolle als angeblicher Bürokrat nur kleinreden. Er will als Mitarbeiter einer administrativen Abteilung die Arbeit der anderen drei Abteilungen seiner Einheit kontrolliert haben: „Ob die ihre Arbeit gut gemacht haben. Ich wusste alles, ich kannte jeden.“
Auch die Folterer wurden systematisch überwacht und bespitzelt
Qualitätskontrolle im Repressionsapparat, das war sein Job. Weshalb er nicht immer dabei gewesen sein musste, wenn Geständnisse erzwungen wurden. Aber öfter schon, das verlangte der Job. Man könnte es die systematische Überwachung und Bespitzelung der Kollegen nennen bei ihrem Folterjob. Auch im Repressionsapparat eines totalitären Systems hält jeder jeden in Schach. Habib sieht sich dennoch als Opfer.
Syriens vier Geheimdienste – zwei militärische und zwei zivile – hielten das Land fünf Assad-Jahrzehnte lang eisern im Griff, überwachten rund 23 Millionen Menschen. Sie schickten sie in die düsteren Zellen, in denen Geständnisse erpresst wurden. Ob schuldig oder nicht, spielte nie eine Rolle. Die Präsidentenfamilie gehörte zur Minderheit der Alawiten, einer kleinen schiitischen, sehr weltlichen Sekte. Daher saßen Alawiten in Schlüsselpositionen des Regimes: in der Politik, im Staatsapparat, in der Armee, in den Geheimdiensten.
Habib sagt: „Unser Dorf war arm. Du hattest zwei Optionen. Du gehst als Soldat zur Armee für einen Hungerlohn, oder du bist der Assad-Familie zu Diensten – in Uniform oder bei ihren Mafia-Geschäften.“ Dies, sagt der Alawit, sei schon die Politik von Vater Hafis al-Assad gewesen und dann auch die seines Sohnes Baschar: „So haben sie sich und ihren Thron geschützt: Sie haben uns Alawiten arm bleiben lassen, damit wir ihnen dienen müssen.“
Weil Habib aus einem Dorf nahe Qardaha kam, wurde er nach der Militärakademie rasch befördert, kam zum Geheimdienst. „Der Dienst hatte drei Hauptabteilungen: Telekommunikations-Überwachung, Überwachung und Verfolgung der Verdächtigen und die Umsetzung der Verfolgungsergebnisse.“ Also die Überführung, Folter bis zum Geständnis und einem Urteil.
„Ich wusste alles. Wer wo wem etwas angetan hat, wer wo welchen Fehler gemacht hatte.“
Habib verfolgte die Fälle seiner Kollegen, las ihr Aktenmaterial, betrieb Administration. Er wusste alles über seine Kollegen. Er hat selbst überwacht und bespitzelt. Das war die Qualitätskontrolle, dafür war er als Qardaha-Mann zuverlässig: „Jeder wollte gut dastehen. Ich wusste alles. Wer wo wem etwas angetan hat, wer wo welchen Fehler gemacht hatte. Ich wusste, wer seine Arbeit gut machte.“
Ein Ausstieg aus diesem System sei unmöglich gewesen. Einmal habe ein anderer Offizier um Versetzung gebeten, er konnte oder wollte das alles nicht mehr. Sein Vorgesetzter habe ihm angeboten, sich in eine andere Stadt versetzen zu lassen. Er müsse nur ein Formular unterschreiben: Wenn ihm in der anderen Stadt etwas zustoße, würden er und seine Familie keine Ansprüche an den Staat stellen. „Die Botschaft war jedem klar“, sagt Habib. „Es gab keinen Ausstieg.“ Deshalb rede er jetzt: „Das muss die Welt wissen, wenn sie urteilt.“
Vor wenigen Tagen hat Rami Habib sich das von den Rebellen befreite Zentralgefängnis in Saidnaya am Stadtrand von Damaskus angesehen. Er will das erste Mal dort gewesen sein. Zehntausende Syrer wurden hier hingerichtet, zu Tode gefoltert, starben an Erschöpfung, Verzweiflung, Krankheit. Vor den Kadi gebracht mit Geständnissen, für die Menschen wie Habib und seine Kollegen auf ihre Weise gesorgt haben.
Als er durch die Haftanstalt gelaufen sei, habe er Angst bekommen: Die Besucher, viele auf der verzweifelten Suche nach Spuren zu ihren vermissten Angehörigen, hätten alle Alawiten verflucht beim Blick in die Verliese, Vergeltung angedroht. Dann schweigt Rami Habib einen kurzen Moment und sagt: „Das war ein Schlachtplatz für Menschen.“