In der Nacht, als Assad ging, saß ein junger Mann vor dem Gefängnis und wusste nicht mehr, wer er war und woher er kam. In einer Decke kauerte er auf der Straße, vor sich eine Gruppe von Männern, die ihn filmten und das Video später in den sozialen Medien teilten. Woher kommst du, fragten sie. Aus Homs?
Er schwieg. Die Hände auf den Knien, den kahlen Kopf gegen die Knie gedrückt. Kein Wort sagte er, keine Regung in seinem Gesicht. Er hatte überlebt in einem von Assads Gefängnissen. Sein Körper war jetzt frei. Sich selbst hatte er verloren, da drinnen.
Nahost:Syrien: Rebellenallianz ebnet Weg für Übergangsregierung
Mohammed al-Baschir, bislang Regierungschef in der Rebellenhochburg Idlib, wurde laut Medienberichten mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Nach dem Sturz Assads stoppt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorerst alle Entscheidungen über Asylanträge von Syrern.
Saidnaya, ein Ort bei Damaskus. Einer dieser Ortsnamen im Syrien des Baschar al-Assad, die nie nur für den Ort selbst standen. Ein Name wie Hama, jene Stadt, die die Rebellen am Donnerstag befreiten, sie steht auch für das Massaker, dass Assads Vater dort in den Achtzigern verüben ließ. Mit Zehntausenden Toten. Oder Ghouta, eine lange Jahre von den Rebellen gehaltene Stadt in der Hauptstadtregion, dort griff Assad, der Sohn, die Menschen 2013 mit dem chemischen Kampfstoff Sarin an. Mindestens mehrere Hundert Tote.
Manche waren alt geworden in diesen Orten der Folter und des Todes
Und dann sind da die Gefängnisse. Sie waren es, genauer gesagt. Bis vor Tagen, bis vor Stunden. Syrien war unter den Assads ein Land mit Gefängnissen, für die das Wort „berüchtigt“ passt. Jenes in Tadmur zum Beispiel, dem antiken Palmyra, es stand für Massenmord an den Gefangenen und Folter. Oder eben, mehr als alle anderen, das Militärgefängnis von Saidnaya.
Kommst du nach Saidnaya, sagten sie in Syrien, wenn sie sich sicher waren, dass keine Spitzel des Regimes zuhören, dann kommst du nicht mehr wieder. „Schlachthaus für Menschen“ nannten sie es. Es war der Ort, an dem Assad seine Gegner verschwinden ließ.
Am Samstag schickten die Rebellen erste Bilder des Gefängniskomplexes, sie waren zum ersten Mal in Sichtweite. In der Woche zuvor waren die Kämpfer in Syrien weiter gekommen als vorher in den ganzen 14 Jahren des Krieges, und wohin sie kamen, öffneten sie die Türen der Gefängniszellen. In Aleppo, in Hama, in Homs. Mit ihren Handys filmten sie, wie Menschen zum ersten Mal seit Jahren ins Freie treten.
Manche waren alt geworden in diesen Orten der Folter und des Todes. Mit weißem Bart stand einer in Hama draußen vor dem Eingang des Gefängnisses, das letzte Foto von ihm zeigt ihn als jungen Mann, ein Schwarz-Weiß-Bild.
Sadistische Gewalt. Tote durch die Misshandlungen. Hinrichtungen. Das war der Alltag
Und jetzt, am Samstag, kamen die Rebellen weiter als zuvor in der ganzen Woche. Überall im Land flohen Assads Truppen. Die islamistischen Verbände von Hayat Tahrir al-Scham (HTS) näherten sich Damaskus von Norden, aus dem Osten griffen die kurdisch dominierten SDF an, und aus dem Süden kamen lokale Aufständische aus der Stadt Daraa. Auch so ein Ort, der einen Beiklang hat, dort fing 2011 die Revolution an. Und in Daraa bekam Assad die Menschen auch mit all seiner Gewalt nie ganz unter Kontrolle.
In der Nacht dann zogen die Wärter aus Saidnaya ab. Auch sie flohen. Und kurze Zeit später standen in Zivil gekleidete Männer mit Gewehren im Überwachungsraum des Gefängnisses, dort, wo die Kamerabilder aus den verschiedenen Blocks einlaufen. Sie jubelten, streckten ihre Waffen in die Höhe und schauten auf die Monitore, als müssten sie sich erst einmal orientieren.
Ein Bericht von Amnesty International, erstellt im Jahr 2017, hilft zu verstehen, was in Saidnaya geschah. 2017, das war das Jahr, als Assad in Aleppo gewonnen hatte und es aussah, als hätte er den ganzen Krieg gewonnen. Währenddessen sprachen die Rechercheure von Amnesty mit den Zeugen, die sie finden konnten: Menschen, die Saidnaya überlebt hatten. Und es in die Türkei geschafft hatten.
Auch sie, heißt es, seien oft sprachlos gewesen, unfähig, darüber zu reden. Über die sadistische Gewalt. Über die Toten durch die jahrelange Folter. Oder über die Hinrichtungen dort in den Jahren seit 2011, also seit der Revolution. In Prozessen, die zwischen ein und drei Minuten gedauert haben sollen, verurteilten Assads Gerichte die Menschen zum Tode. In Saidnaya sollen dann nachmittags die Aufseher durch den „roten Block“ gegangen sein, den Block der zivilen Gefangenen, um die Opfer des Tages abzuholen.
In der Nacht stoßen Rebellen die Zellentüren auf. Von den Nachrichten hatten die Frauen hier nichts mitbekommen
Man habe ihnen gesagt, sie würden in ein ziviles Gefängnis verlegt. Eine gute Nachricht. Stattdessen kamen sie in Räume im Keller, in denen sie über Stunden geschlagen worden seien, bevor man ihnen, so der Bericht, die Augen verband. Nachts dann brachte man sie in den „weißen Block“, der für Armeeangehörige bestimmt war. Erst kurz bevor sie gehängt wurden, erfuhren die Menschen, dass sie gleich sterben würden.
Beerdigt wurden sie in Massengräbern. Anonym, ohne dass ihre Familien davon erfahren hätten. Die fuhren oft durchs Land, jahrelang, in der Hoffnung, ihre Angehörigen zu finden. Sie bestachen Leute des Regimes, damit sie wenigstens erfuhren, wo ihr Vater, ihr Sohn, ihre Tochter einsaß und ob er oder sie noch am Leben war. Nur für die Gewissheit.
Die US-Regierung beschuldigte Assad vor einigen Jahren, er habe in Saidnaya auch ein Krematorium gebaut. Es würde zu ihm passen. Nichts sollte bleiben von den Menschen, die er verschwinden ließ. Über die Jahre dürften es mehrere Zehntausend gewesen sein, die meisten starben hier, in Saidnaya.
In der Nacht nun, als der Diktator aus Damaskus floh, zeigt ein Video, wie die Rebellen sich durch die Gänge des Gefängnisses bewegen. Sie stoßen auf den Frauentrakt. Rostige Türen gehen auf. Wer die Männer seien, fragt eine Frau, von den Nachrichten haben sie in der Zelle nichts mitbekommen.
„Wir sind die Revolutionäre“, sagt einer. „Ihr seid frei, geht, wohin ihr wollt.“ Fragende Gesichter, aha, aber sie bräuchten noch ihre Sachen, die sie damals abgegeben hätten. „Geht, wohin ihr wollt“, sagt ein Rebell. „Ihr könnt euch jetzt alles nehmen.“
Dann hält der filmende Rebell sein Handy auf ein kleines Mädchen, das auf dem Flur steht, schweigend, die Männer betrachtend, die auf einmal aufgetaucht waren. Offenbar ist es die Tochter einer Gefangenen. Ihr Leben fing an, wo so viele andere zu Ende gingen. Bis zu dieser Nacht.