Süddeutsche Zeitung

Syrien-Flüchtlinge:Was Merkel übersehen hat

Angela Merkel gibt sich erstaunt über die dramatische Lage der syrischen Flüchtlinge im Nahen Osten. Dabei hätte es durchaus ein paar Hinweise gegeben. Eine Chronologie in Zitaten.

Von Ruth Eisenreich

Naiv oder dreist? Angela Merkel und Sigmar Gabriel wirkten schockiert. "Manche Familien muss man eigentlich hier herausholen", sagte der Vizekanzler Ende September nach einem Besuch im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari: "Es gibt keine Chance für die, hier am Leben zu bleiben." Und die Bundeskanzlerin erklärte: "Hier haben wir alle miteinander, und ich schließe mich da ein, nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert sind." Die EU will nun eine Milliarde Euro für syrische Flüchtlinge im Nahen Osten zur Verfügung stellen. Aber kann es sein, dass Kanzlerin und Vizekanzler wirklich erst damals den Ernst der Lage begriffen haben? Und wer ist eigentlich mit "wir alle" gemeint?

  • 28. September 2012. Knapp 300 000 Syrer leben in Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, im Irak und in der Türkei. Ohne die Mithilfe der internationalen Gemeinschaft könnten sie nicht auf Dauer versorgt werden können, sagt Panos Moumtzis, der Regionalkoordinator des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR: "Wir haben nur rund ein Drittel des Geldes, das wir bräuchten." Den Aufnahmeländern gehe das Geld für Lebensmittel, Medikamente, Kleidung und Unterkünfte aus, das UNHCR benötige daher 488 Millionen US-Dollar.
  • 23. August 2013. "Wir müssen uns alle schämen", sagt Anthony Lake vom UN-Kinderhilfswerk Unicef. Die Welt erlebe das größte Flüchtlingsdrama seit dem Völkermord in Ruanda vor fast 20 Jahren, in den Nachbarländern Syriens mangele es an Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung für die Flüchtlinge. Die Vereinten Nationen melden, erst 38 Prozent des bis Ende des Jahres benötigten Geldes stünden bereit.
  • 3. September 2013. Mehr als zwei Millionen Syrer seien ins Ausland geflohen, mehr als vier Millionen seien im eigenen Land auf der Flucht, meldet das UNHCR. Die internationale Unterstützung für die Aufnahmeländer Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten und Türkei müsse dringend verstärkt werden, fordert UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres.
  • 16. Dezember 2013. In einem gemeinsamen Appell erklären Dutzende Hilfsorganisationen, für das Jahr 2014 würden rund 4,7 Milliarden Euro an Hilfsgeldern für Flüchtlinge aus Syrien benötigt. "Dies ist die schlimmste humanitäre Krise, die wir seit Jahrzehnten erleben, und jeden Tag wächst die Zahl gefährdeter Syrer, die dem Hunger ausgesetzt werden", sagt Muhannad Hadi, Nothilfekoordinator des Welternährungsprogramms (WFP) für Syrien.
  • 15. Januar 2014. Bei einer internationalen Geberkonferenz für die Opfer des Bürgerkriegs in Syrien sagen Regierungen Hilfsgelder in Höhe von etwa 2,4 Milliarden Dollar zu. Das werde aber nicht reichen, um Nothilfe für alle Flüchtlinge und Vertriebenen bereitzustellen, sagt UN-Generalsekretär Ban Ki Moon: "Wir schätzen, dass wir in diesem Jahr 6,5 Milliarden Dollar benötigen werden." Schon von den bei einer ersten Geberkonferenz für Syrien im Vorjahr versprochenen 1,5 Milliarden Dollar seien nur 70 Prozent tatsächlich an die Vereinten Nationen überwiesen worden.
  • 31. Januar 2014. Mehr als sechs Millionen Syrer sind auf der Flucht, der Libanon und Jordanien schreien um Hilfe. Mehr als sechs Milliarden Dollar würden 2014 für humanitäre Hilfe und den Aufbau der Infrastruktur in den Nachbarstaaten benötigt, heißt es bei einer UN-Konferenz in Kuwait. "Der Syrien-Krieg, entgrenzte Gewalt, Flucht und Vertreibung sind eine Katastrophe für Millionen von Menschen, das überfordert die Nachbarländer", sagt Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth nach einem Besich in der Region: "Die humanitäre Krise wird zu einer politischen, die die Region destabilisiert und zum Flächenbrand führen kann. Die notwendige humanitäre Hilfe ist daher nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch politische Rationalität." Und Jordaniens Innenminister Hussein al-Majali warnt: "Was in Syrien geschieht, wird auch Europa und Deutschland treffen."
  • 3. April 2014. "Der Libanon hat die höchste Flüchtlingsdichte in der jüngsten Geschichte", sagt UN-Flüchtlingskommissar António Guterres: "Wir können das Land diese Last nicht allein schultern lassen." Die Weltbank schätzt, dass die Syrien-Krise den Libanon 2,5 Milliarden Dollar an verlorener Wirtschaftsleistung gekostet hat. "Die Internationale Unterstützung für staatliche Einrichtungen sowie für lokale Gemeinden steigt zwar allmählich, aber wir sind noch sehr weit von den tatsächlichen Bedürfnissen entfernt", sagt Guterres. Während sich die humanitäre Katastrophe ausweitet und dramatische Konsequenzen für den Libanon nach sich zieht, ist die humanitäre Hilfe nur zu dreizehn Prozent finanziert. "Vergangenes Jahr", melden die Vereinten Nationen, "wurde ein Spendenaufruf für 1,89 Milliarden US-Dollar lanciert, bisher sind aber nur 242 Millionen zur Verfügung gestellt worden."
  • 28. Oktober 2014. Bei einer Syrien-Flüchtlingskonferenz in Berlin sagt Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), die internationale Staatengemeinschaft müsse den Aufnahmeländern im Nahen Osten unter die Arme greifen und den Flüchtlingen neue Hoffnung geben. "Die internationale Hilfe reicht nicht aus", sagt der libanesische Ministerpräsident Tammam Salam bei der Konferenz, der jordanische Außenminister Nasser Judeh fordert: "Wenn Jordanien diese Lasten weiter tragen soll, brauchen wir die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft." Auch Vertreter der Türkei, Ägyptens und des Irak fordern mehr Unterstützung für die Aufnahmeländer.
  • 1. Dezember 2014. Das WFP stoppt wegen Geldmangels die Lebensmittelhilfe für 1,7 Millionen Syrer in Ägypten, Jordanien, in der Türkei, im Libanon und im Irak. "Die Aussetzung der WFP-Nahrungsmittelhilfe bedroht die Gesundheit und Sicherheit dieser Flüchtlinge", warnt WFP-Direktorin Ertharin Cousin. "Das könnte zu weiteren Spannungen und zu Instabilität in Syriens Nachbarländern führen." Viele Geberländer hätten zugesagte Gelder nicht überwiesen, klagt Cousin.
  • 18. Dezember 2014. Die Unterstützung, die den diversen UN-Organisationen bisher für die Flüchtlinge im Nahen Osten zugesagt wurde, reichen laut UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres nicht einmal für den Winter. "Es ist nicht hinnehmbar, dass das Welternährungsprogramm alle vier Wochen betteln gehen muss", sagte der deutsche Minister für Entwicklungszusammenarbeit, Gerd Müller (CSU). "Kein Verfolgter darf an der ausgestreckten Hand verhungern."
  • 16. Januar 2015. Zwei Drittel der syrischen Flüchtlinge in Jordanien lebten unter der Armutsgrenze, meldet das UNHCR. "Wenn die internationale Gemeinschaft nicht ihre Unterstützung für die Flüchtlinge erhöht, werden die Familien gezwungen sein, noch drastischere Wege zu gehen", sagt Flüchtlingskommissar Guterres. "Mehr Kinder werden nicht mehr zur Schule gehen können, weil sie arbeiten müssen und mehr Frauen werden gezwungen sein sich zu prostituieren, um zu überleben."
  • 12. März 2015. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef meldet, für 3,6 Millionen Flüchtlingskinder in den Nachbarländern Syriens werde das Leben immer schwieriger. Zunehmend würden Mädchen jung verheiratet, um ihre Familie zu entlasten, junge Männer würden sich mangels Alternativen bewaffneten Gruppierungen anschließen. Im Jahr 2015 brauche Unicef für seine Programme in der Konfliktregion 903 Millionen Dollar, sagt Christian Schneider, der Geschäftsführer von Unicef Deutschland: "Bislang wurde lediglich ein Siebtel davon zugesagt."
  • 29. März 2015. UN, Rotes Kreuz und die britische Hilfsorganisation Oxfam schlagen Alarm: In den ersten drei Monaten des Jahres sei noch nicht einmal ein Zehntel der für 2015 benötigten Mittel für Flüchtlinge in Syrien und den Nachbarländern eingegangen. Ertharin Cousin, die Präsidentin des WFP, warnt, in Jordanien werde das Geld für die 1,3 Millionen syrischen Flüchtlinge nur bis April reichen. Im Libanon bekämen die Flüchtlinge nur noch 19 statt 25 Dollar Lebensmittelhilfe pro Monat, nun müsse man Zehntausende ganz aus dem Programm werfen - obwohl nach bis zu fünf Jahren Flucht bei immer mehr syrischen Flüchtlingen die privaten Mittel erschöpft seien. Um die syrischen Flüchtlinge über das erste Halbjahr 2015 zu bringen, fehlten dem WFP 158 Millionen Dollar, sagt die Präsidentin.
  • 27. Juni 2015. "Wir haben so wenig Mittel, dass wir in den nächsten sechs Monaten nicht in der Lage sind, die grundlegendsten Überlebensbedürfnisse von Millionen von Menschen zu bedienen", warnt UN-Flüchtlingskommissar Guterres. Von den 4,53 Milliarden US-Dollar, die das UNHCR für die Unterstützung der syrischen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen benötige, hätten die internationalen Geberländer noch nicht einmal ein Viertel bereitgestellt. Man habe bereits die Lebensmittelrationen für 1,6 Millionen Flüchtlinge und die Vorsorgemaßnahmen für 70 000 schwangere Frauen reduzieren müssen, 750 000 Kinder gingen nicht zu Schule, und die Winterhilfe sei gefährdet.
  • 3. Juli 2015. Das Welternährungsprogramm WFP kürzt aus Geldmangel im Libanon erneut die Lebensmittelgutscheine: auf zwölf Euro pro Person und Monat. In Jordanien muss die Unterstützung von 440 000 syrischen Flüchtlingen, die außerhalb von Lagern leben, ganz gestrichen werden. "Gerade als wir dachten, die Lage könnte nicht schlechter werden, sind wir einmal mehr zu weiteren Einschnitten gezwungen", sagt WFP-Regionaldirektor Muhannad Hadi. Nach WFP-Angaben ist Unterstützung für die Flüchtlinge in der Region zu 81 Prozent unterfinanziert. Es würden umgehend 124 Millionen Euro benötigt, um sie fortsetzen zu können.
  • 18. September 2015. 360 000 Syrerinnen und Syrer in Lagern rings um ihr Heimatland sind inzwischen ganz ohne Hilfe des WFP. Für mehr als 1,5 Millionen weitere habe man die Nahrungsrationen drastisch kürzen müssen, sagt Abeer Etefa, die WFP-Verantwortliche für die Region. Laut UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming wären 4,5 Milliarden Dollar nötig, um den vier Millionen syrischen Flüchtlingen in den Lagern in Libanon, Jordanien und der Türkei mit Nahrung, Unterkünften und elementarer medizinischer Versorgung zu helfen. Davon seien erst 43 Prozent eingetroffen.
  • 22. September 2015. "Wir haben jahrelang rumgehampelt wie die Clowns und gesagt, es braucht Geld, Geld, Geld", sagt der ehemalige Leiter des jordanischen Flüchtlingslagers Zaatari, Kilian Kleinschmidt, der SZ: "Und dann kucken einen immer alle mit großen Augen an und sagen: Ja, da schauen wir mal. Und dann kriegt man vielleicht eine Million hier, eine Million da - aber allein für die Grundversorgung der Flüchtlinge fehlen im Nahen Osten im Augenblick drei Milliarden Dollar."
  • 23. September 2015. Die EU kündigt an, eine Milliarde Euro bereitzustellen. Angela Merkel gibt sich erschüttert.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2662655
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.