Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğan läuft in der Syrienpolitik hinterher

  • Während einer Luft- und Raumfahrtmesse in Moskau trifft der türkische Präsident Erdoğan Russlands Staatschef Putin.
  • Der Besuch war auch den Geschehnissen in Idlib geschuldet: Dort versuchen Truppen des syrischen Machthabers al-Assad, die Rebellenenklave zu erobern.
  • Seit Freitag sind dort stationierte türkische Soldaten eingekesselt.

Von Moritz Baumstieger

Wie wichtig Timing in der Politik ist, weiß die Welt spätestens, seit Reporter einen verschwurbelten Satz von Michail Gorbatschow umformulierten zum knackigen Ausspruch "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Auch dem türkischen Präsident ist die Weisheit sicher geläufig, in seiner langen Karriere erkannte Recep Tayyib Erdoğan oft die Gunst des Augenblicks - etwa, als er 2016 den Putschversuch seiner Gegner dazu nutzte, die eigene Macht auszubauen.

In der Syrienpolitik läuft er jedoch gerade hinterher. Wie stark, das zeigte am Dienstag eine Reise nach Moskau. Während einer Luft- und Raumfahrtmesse traf Erdoğan dort Russlands Staatschef Wladimir Putin, zunächst beobachteten die beiden durch dunkle Sonnenbrillen eine Flugshow, später lud Putin den Gast auf ein Eis ein. Bei den Gesprächen ging es zum einen um Rüstungsdeals, während die Präsidenten plauderten, landete in Ankara ein Transportflugzeug, um das bereits bestellte Luftabwehrsystem S-400 zu liefern.

Vor allem aber war Erdoğans Ausflug zu Gorbatschows Nach-Nach-Nachfolger den Geschehnissen in Idlib geschuldet: Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assads versuchen, die Rebellenenklave in Syriens Norden zu erobern. Nachdem sie lange kaum Geländegewinne erzielten, überrannten sie vergangene Woche die Stadt Khan Scheikchun, in deren Süden die türkische Armee einen Beobachtungsposten unterhält. Als Ankara die Situation realisierte, war es bereits zu spät: Ein eilig entsandter Konvoi mit Verstärkung erreichte den Stützpunkt beim Weiler Morek nicht mehr, seit Freitag sind die dort stationierten türkischen Soldaten eingekesselt.

Die hämischen Selfies syrischer Kämpfer vor dem belagerten Stützpunkt, die Assad-nahe Medien seither verbreiten, sind für Erdoğan peinlich. Schwerer wiegt aber, dass Russland bisher keinerlei Entgegenkommen zeigt: Außenminister Sergej Lawrow sagte kühl in einem Interview, er sehe keine Verletzung irgendeines Abkommens durch syrische Truppen - und bezeichnete die Region um Idlib weiter als "Deeskalationszone".

Angesichts der Angriffe, die nach UN-Angaben seit April 600 000 Menschen vertrieben und fast 1000 Menschen getötet haben, war das zynisch. Und Ankara gegenüber dreist: Im Herbst 2018 hatten sich Russland und die Türkei auf die Errichtung von Beobachterposten geeinigt, die eine Waffenruhe überwachen sollten. Erdoğan dürfte wenig Hoffnung gehabt haben, dass Putin nach dem gemeinsamen Messebummel verkünden würde, seinem Protegé in Damaskus von nun an weitere Vormärsche in Idlib zu untersagen.

Allgemeine Sätze zu Idlib

Als die beiden Präsidenten vor die Mikrofone traten, blieb es dann auch bei recht allgemeinen Sätzen zu Idlib, etwa, dass man den Terrorismus gemeinsam bekämpfen wolle und der Stabilität verpflichtet sei. Der Gastgeber bot Erdoğan aber nicht einmal eine Lösung für einen gesichtswahrenden Abzug der türkischen Soldaten aus Morek an.

Während sich die beiden Präsidenten demonstrativ nahe gaben, könnte eine andere für Erdoğan schlecht getimte Entwicklung einen Durchbruch verhindert haben: Am Dienstag starteten Aufständische eine Gegenoffensive in Idlib und eroberten mehrere Dörfer östlich von Khan Scheikchun. Dabei rückten sie auf eine Stellung der russischen Armee vor, die wie der türkische Beobachterposten 2018 errichtet wurde. Eine dauerhafte Bedrohung für Russlands Ziele in Syrien dürfte das nicht darstellen. Aber Putins Bereitschaft, Erdoğan entgegenzukommen, wird der Angriff nicht erhöht haben.

Offener zeigte sich der russische Präsident für die türkische Position in der Kurdenfrage - doch auch hier droht Erdoğan Ärger, diesmal im eigenen Land. Am Montag hatten türkische Medien berichtet, dass fünf Generäle um Versetzung in den Ruhestand gebeten haben. Sie alle waren mit Aufgaben an der türkischen Südgrenze und auf syrischem Staatsgebiet betraut. Für die Handlungsfähigkeit der in Idlib offenbar überforderten Armee könnte dies ein Problem werden. Vor allem seien die Generäle mit einem Abkommen unzufrieden gewesen, hieß es, das Ankara mit Washington getroffen hat.

Die mit den USA verbündete Kurdenmiliz YPG beherrscht nach dem Sieg über den IS den Nordostteil Syriens, die Türkei sieht in ihr eine Terrororganisation. Zuletzt verlangte die Türkei deshalb die Einrichtung einer Sicherheitszone entlang der Grenze. Vergangene Woche patrouillierten erstmals türkische und US-Hubschrauber gemeinsam, am Dienstag gaben die Kurden bekannt, Stellungen an der Grenze geräumt zu haben. Doch das wird Erdoğan nicht reichen, er hatte dem Volk zuletzt deutlich mehr angekündigt, nämlich dass "unsere Bodentruppen bald in die Region eindringen werden". Nach der Demission der Generäle ist das fraglicher denn je.

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SZ vom 28.08.2019/dit
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