Süddeutsche Zeitung

Syrien:Erschütterungen im Kriegsgebiet

Mindestens 1300 Menschen sterben bei dem knapp zweiminütigen Erdbeben im syrischen Grenzgebiet. In einer der größten Kältewellen werden nun noch weniger Hilfsgüter die Zeltstädte mit Flüchtlingen erreichen.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Und wieder Syrien: Es sind die schwersten Erdstöße seit 1995, die das ohnehin heimgesuchte Land erschüttert haben. Die Zahl der Opfer steigt stetig an. Bis Montagabend zählen syrische Hilfsorganisationen und das Gesundheitsministerium in dem Bürgerkriegsland mindestens 1300 Tote, vor allem im Nordwesten, und 2400 Verletzte. In Aleppo, der im Krieg zertrümmerten uralten Metropole, waren in der Nacht auf Montag mindestens 200 Häuser eingestürzt. Die Stadt liegt nur 97 Kilometer von dem Epizentrum des Erdbebens bei Gaziantep in der Türkei entfernt.

Der Geologe Chris Elders von der Curtin-Universität im australischen Perth schätzt, dass die mit 17 Kilometer unter der Oberfläche recht flachen Erdstöße auch in den nächsten Wochen viele Nachbeben verursachen werden. "Diese Art von Beben ist für die Bauweise der Region besonders gefährlich", so Elders.

Vor allem in der von Rebellen gehaltenen Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei ist die Lage unübersichtlich. Die Hilfsorganisation SAMS zählte bis Montagmittag 138 Tote, mehr als 600 Verletzte seien in Behandlung, so ein Sprecher. Weil viele Flüchtlinge in der Region in Zeltstädten leben, könnte die Opferzahl dort zwar geringer sein als in den Großstädten wie al-Chums oder der 1,8-Millionen-Einwohner-Metropole Aleppo. "Doch die sowieso schon kritische Versorgungslage durch die derzeitige Kältewelle und die Gefechte der letzten Jahre wird in den nächsten Wochen Hunderttausende Leben gefährden", so ein Sprecher der Organisation, die mit 1700 Helfern im Einsatz ist.

Ein Krankenhaus in al-Dana und eine Geburtsklinik in Idlib mussten nach schweren Beschädigungen am Montagmorgen evakuiert werden. Die Stadt al-Atarib ist laut SAMS am schwersten betroffen, alleine in der Innenstadt stürzten 15 Gebäude ein. Dort und in der von drei Millionen Flüchtlingen aus ganz Syrien bewohnten Provinz Idlib ist seit dem Morgen die Rettungsorganisation Weißhelme im Einsatz. Seit Kriegszeiten sind die Freiwilligen auf das Bergen von Verschütteten aus von Fassbomben zerstörten Gebäuden spezialisiert. Der Chef der Gruppe, Raed al-Saleh, zeigte sich angesichts der zahlreichen unter den Trümmern vermuteten Menschen erschüttert. Auf das bisher unbekannte Ausmaß der Schäden in Syrien lassen die hohen Zahlen beschädigter und zerstörter Häuser in der benachbarten Türkei schließen.

Eine der schlimmsten Kältewellen der vergangenen Jahre hat die Region im Griff

Hilfsorganisationen hatten bereits vor dem Erdbeben kritisiert, dass die Begrenzung ihres Mandats auf ein halbes Jahr und die erlaubte Nutzung nur eines türkisch-syrischen Grenzübergangs die Versorgung der mehr als eine Million in Zeltstädten lebenden Flüchtlinge behindert. Mitten in einer der größten Kältewellen der letzten Jahre werden nun noch weniger Medikamente, Schlafsäcke und Nahrungsmittel über die syrische Grenze kommen. Der stellvertretende Gesundheitsminister al-Hamsa sprach am Montag früh im syrischen staatlichen Fernsehen von 230 Toten. Aber auch in den weiter von dem Epizentrum entfernten Regierungsprovinzen dürften die Opferzahlen noch dramatisch ansteigen. Die Regierung in Damaskus fordert seit Langem die Schließung der türkisch-syrischen Grenze und will die letzte von der Opposition gehaltene Provinz Idlib selbst mit Hilfsgütern versorgen.

Die anlaufende internationale Hilfsaktion für Syrien steht im Schatten des andauernden Konflikts zwischen dem Regime und den Rebellen in Idlib. Während mehrere westliche Länder und die Ukraine der Türkei Hilfe anboten, wollen die russische Regierung und Ägypten Spezialisten in die Türkei und das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet schicken. Unklar ist, ob die internationalen Bergungsspezialisten ohne Zustimmung von Damaskus in der Provinz Idlib zum Einsatz kommen können.

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