Süddeutsche Zeitung

Syrien:Ein Schein von Frieden

Ein Jahr nach der Offensive auf die Kurdengebiete will die Türkei belegen, dass Normalität eingekehrt ist. Ankara inszeniert sich als Beschützer.

Von Tomas Avenarius, Tal Abyad

Die Fliege auf der Linse gibt dem Ganzen etwas fast anrührend Komi-sches. Erst schwenkt der Turm mit der Ma-schinenkanone nach rechts, der Schütze am Bildschirm im Inneren des Truppentransporters zoomt das Bild näher an das freistehende Gebäude heran, screent die Tür, danach Stockwerk für Stockwerk die Fenster. Dann schwenkt die Kamera nach links, wandert über menschenleere Felder, richtet sich wieder auf die Straße, den Konvoi, das Staub aufwirbelnde Militärfahrzeug vor dem Objektiv. Der Soldat justiert ein wenig nach mit seinen beiden Joysticks und fängt von vorne an: Das nächste Haus, die nächste Tür, die Fenster, die Balkone, ab und an kommt die Mündung der Kanone ins Bild. Nur die tote Fliege bleibt bei all dem unbewegt auf der Linse kleben, die Flügel und die Beine seltsam abgespreizt.

Unterwegs mit der türkischen Armee. Ein Konvoi im Grenzgebiet, in der sogenannten Sicherheitszone auf der syrischen Seite der türkisch-syrischen Grenze. Ein Jahr nach Beginn der Militäroperation "Friedensquelle" will die Regierung in Ankara belegen, dass sich das Leben im syrischen Kurdengebiet normalisiert, dass nach der Vertreibung der kurdischen YPG-Miliz der Frieden eingekehrt ist. Unterstützt wurde die türkische Armee bei ihrer Offensive von der Syrischen Nationalarmee, einem von der Türkei ausgerüsteten, ausgebildeten und befehligten Verbund von Rebellen. Gezeigt werden soll, dass die von neun Jahren Bürgerkrieg gequälten Syrer wenigstens dort - unter dem Schutz der Türken - ein halbwegs friedliches Leben führen können. Wobei der Name "Friedensquelle" in die Irre führt: Die Militäroperation 2019 markierte den Einmarsch türkischer Truppen in ein weiteres Teilgebiet des bis dahin von den syrischen Kurden kontrollierten Gebiets, welches diese "Rojava" oder Westkurdistan nennen. Wenn die Kurden Syriens, die sich im Bürgerkrieg jahrelang geschickt am Rand gehalten und dann für den Westen zur Speerspitze im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) wurden, je von einem Staat oder zumindest von Autonomie geträumt haben sollten, endete dies mit der Operation "Barış Pınarı", der Friedensquelle.

Machthaber Assad ist der einzige, der den syrischen Kurden noch Schutz bieten kann

Tiefer nach Syrien hinein wollen die ver-antwortlichen türkischen Offiziere an diesem Tag nicht. Erst vor zwei Tagen seien sie wieder beschossen worden, sagen sie. Ein Hinweis darauf, dass der Widerstand der YPG-Kurden im Grenzgebiet wohl noch immer nicht ganz gebrochen ist. Aber die militärische Lage ist stabil und steht nicht im Zentrum: Die Offiziere stellen das zivile Leben in der syrischen Grenzstadt Tal Abyad als Folge ihrer erfolgreichen Anti-Terror-Operation dar, zeigen den Basar, die Schule. Die Kämpfe zu Beginn des Einmarsches waren hart, offiziellen Angaben zufolge starben bisher 93 türkische Soldaten. Auf dem Hof einer Grundschule zählt ein Offizier zwischen spielenden Kindern stehend auf, wo überall in der Stadt die YPG-Kämpfer sich verschanzt hatten: In der Schule, in der Moschee, im Krankenhaus, wo überall sie Verbindungs- und Versorgungstunnels gegraben, Waffen gelagert haben sollen. "Obwohl das eine Schule ist, hatten die Terroristen sie für andere Zwecke genutzt", sagt der Uniformierte. "Wir haben hier jede Menge Waffen, Minen und Sprengfallen gefunden."

Eine tief verschleierte Lehrerin läutet das Ende der Pause ein, die Kinder rennen zurück in die Klassenzimmer. Dort sitzen die Mädchen links, die Jungen rechts; sie lernen das arabische Alphabet, üben das Rechnen, antworten im Chor. Das wirkt wie auf einer Militärschule, aber ist dem arabischen Verständnis von Pädagogik geschuldet: Es wird wiederholt und auswendig gelernt. Die Kinder geben erwartbare Antworten: "Ich will Arzt werden und Kranke heilen." Gibt es auch Kurden unter den Schülern? "Nur wenige", sagen die Offiziere - rund 95 Prozent der Bewohner von Tal Abyad seien Araber, weshalb an der Schule nur auf Arabisch unterrichtet werde.

Für Ankara sind die in der PYG-Partei und ihrer YPG-Miliz organisierten syrischen Kurden als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK aus der Türkei schlicht "Terroristen", auch wenn die Kurdenmiliz sich inzwischen den Namen SDF, Syrische Demokratische Kräfte, gegeben hat. Dass sich die USA und andere westliche Staaten im Kampf gegen den IS mit den SDF verbündet und diese aufgerüstet hatten, hinderte Ankara nicht daran, die YPG nach der Niederlage des IS zu vertreiben. Möglich geworden war dies, nachdem US-Präsident Donald Trump die amerikanischen Truppen quasi über Nacht aus diesem Teil des Kurdengebiets zurückgezogen und dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan den Weg freigemacht hatte.

Die Türken konnten die YPG auf mehreren Hundert Kilometern Breite rund 30 Kilometer tief ins Landesinnere zurückdrängen und Araber in Städten wie Tal Abyad und den umliegenden Dörfern ansiedeln, unter ihnen in die Türkei geflohene Syrer. Ankara versucht eine Pufferzone zu schaffen, in der durch die Ansiedlung von Arabern und Turkmenen verhindert wird, dass wieder ein durchgängiges Kurdenter-ritorium entsteht, das sich möglicherweise irgendwann mit den türkischen Kurdengebieten vereinigen könnte. Die syrischen Kurden haben nun keine andere Wahl, als sich mit dem Assad-Regime gut zu stellen; der syrische Machthaber ist der einzige, der ihnen noch Schutz bieten kann. Aber das bedeutet in Syrien erfahrungsgemäß nicht nur das Ende kurdischer Autonomie, sondern führte auch früher stets zur Marginalisierung der Kurden. Das Hospital, die Moschee, ein Gemeindezentrum - alles bei den Kämpfen um Tal Abyad zerstört, alles nun wieder aufgebaut, mit türkischem Geld und türkischer Hilfe. Die Botschaft ist eindeutig: Die Türkei als brüderlicher Helfer und Beschützer.

Die wahren Machtverhältnisse zeigen sich in Tal Abyad beim Besuch im Gebäude der Stadtverwaltung, wo der Vorsitzende des lokalen Parlaments, Wael al-Hamdu, die Türkei lobt - sie habe "uns in den vergangenen zehn Jahren geholfen" und die fehlende Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen beklagt: "Was hat diese Stadt verbrochen, dass sie uns nicht helfen?" Direkt daneben, auf demselben hochgesicherten Compound, liegt das Gebäude des türkischen "Gouverneurs von Şanlıurfa", Abteilung Syrien, Unterstützung und Koordination. Neben der Eingangstür steht ein türkischer Panzerwagen. So wirklich weit scheint es mit den unabhängigen Entscheidungen der Amtsträger in Tal Abyad noch nicht zu sein. Parlamentschef al-Hamdu betont dennoch, dass "unsere türkischen Freunde sich nicht einmischen in unsere Angelegenheiten", sondern nur beratend einwirkten. Auch die Polizei arbeite eigenständig.

Zu sehen sind Polizisten auf dem Basar. Sie sind ehemalige Kämpfer der Anti-Assad-Milizen, die nun ein grünes Barrett tragen, sich in ihrem Auftreten und Outfit aber wenig von den syrischen Rebellen unterscheiden, die sie vorher waren. Ein Ladenbesitzer aus Raqqa sagt mit einem Nicken in Richtung eines der Polizisten: "Solange die Türken hier sind, fühlen wir uns halbwegs sicher. Wenn sie gehen, gehen die alten Kämpfe von vorne los."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5079159
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.10.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.