Syrien:Das Assad-Regime wickelt seine Opfer ab

Syrien: Sie wollen die ganze Wahrheit über die Toten erfahren: Noura Ghazi (Mitte) demonstriert zusammen mit anderen Angehörigen Verschwundener vor dem Genfer UN-Sitz.

Sie wollen die ganze Wahrheit über die Toten erfahren: Noura Ghazi (Mitte) demonstriert zusammen mit anderen Angehörigen Verschwundener vor dem Genfer UN-Sitz.

(Foto: Dylan Collins/Families for Freedom/oh)
  • Tausende Syrer verschwanden während des Bürgerkriegs in den Foltergefängnissen der Regierung.
  • Dass sie schon seit Jahren tot sind, erfahren die Angehörigen erst jetzt - die Regierung stellt kommentarlos Totenscheine aus.
  • Die Menschenrechtsaktivistin Noura Ghazi betreut Familien von Verschleppten - und hat selbst ihren Mann im Bürgerkrieg verloren.

Von Moritz Baumstieger

Als der Staat Noura Ghazi den Mann zum ersten Mal nahm, war sie noch gar nicht dessen Ehefrau. Es war der 15. März 2012, die erste Demonstration gegen das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad jährte sich zum ersten Mal. Bassel Khartabil Safadi, ein Internet-Aktivist, der die Protestbewegung mit digitalem Know-how versorgte, verließ sein Büro in Damaskus. "Der Militärgeheimdienst hatte einen Lieferwagen vor dem Haus geparkt", erzählt Ghazi der SZ am Telefon, mittlerweile lebt sie in Beirut. "Als die Beamten Bassel sahen, zerrten sie ihn in das Auto." Zwei Wochen später hatten sie und Safadi ihre Hochzeit feiern wollen, 31 Jahre waren sie da beide alt und trotz der Gewalt noch voller Hoffnung. Doch frei kam Safadi niemals mehr.

Dass der Staat ihrem Mann später auch das Leben nahm, weiß Noura Ghazi seit einem Jahr. Sie bekam im August 2017 keine Dokumente, die Safadis Tod belegten, die Nachricht erreichte sie auf inoffiziellem Weg. Seit 1. Juli hat Ghazi es auch schriftlich. Ein Verwandter ging in Syrien auf das Amt, und siehe da: Im Zivilregister stand Safadi als tot vermerkt, Angaben zu den Todesursachen gab es keine - was meist bedeutet, dass die Person hingerichtet wurde.

Es war kein Zufall, dass der Verwandte gerade jetzt nachfragte. In den vergangenen Wochen machten sich in Syrien viele Menschen auf, um nach Angehörigen zu forschen. Nun, da der Aufstand im Land niedergeschlagen zu sein scheint und der Krieg gewonnen, bemüht sich das Regime, eines der dunkelsten Kapitel des Bürgerkriegs zu schließen. Nicht etwa durch Aufarbeitung, sondern durch stille Abwicklung: Geheimdienste und Militärgerichte senden ihre Akten an lokale Behörden, die daraufhin ihre Melderegister aktualisieren.

Weit mehr als 18 000 Menschen wurden in Syriens Gefängnissen hingerichtet oder totgefoltert

Erst Hama, dann Homs, später Damaskus, Latakia und Hasakeh - Menschen, deren Spuren sich in Gefängnissen von Armee und Geheimdiensten verlieren, sind nun als tot verzeichnet. Nach Schätzungen von Organisationen wie Amnesty International oder dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte ist das Schicksal von mehr als 80 000 Syrern ungeklärt, die in der Opposition aktiv waren oder einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Weit mehr als 18 000 sollen hingerichtet oder zu Tode gefoltert worden sein.

Noura Ghazi hatte zunächst Glück. Zehn Monate nach der Verhaftung Safadis fand sie heraus, dass ihr Verlobter ins Adra-Gefängnis verlegt wurde. Schon zuvor hatte sie ab und zu Nachrichten von ihm bekommen, wenn er einen Weg fand, etwas aus dem Gefängnis schmuggeln zu lassen. "Er konnte so wunderbar ironisch schreiben", sagt Ghazi, "sogar die Folterungen hat er so sarkastisch geschildert, dass man lachen musste."

Ghazi betreute als Menschenrechtsanwältin schon Familien von Verschleppten, bevor sie Safadi kennenlernte. Ihr Wissen und ihre Kontakte brauchte sie nun auch für Safadi und sich selbst, sie erstritt ein Besuchsrecht. Anfang 2013 holten die beiden im Gefängnis ihre Hochzeit nach. "Drei Jahre lang habe ich Bassel im Gefängnis besucht", erzählt Ghazi, "an drei Tagen jede Woche." Bis ihr der Staat den Mann zum zweiten Mal nahm: Am 3. Oktober 2015 wurde Safadi aus der Zelle geführt. Warum, wohin? Keiner wusste es.

Schlimmer als Folter

Dass Safadi nach einem Urteil eines Standgerichtes hingerichtet wurde, der Staat sie zur Witwe machte, erfuhr Ghazi lange nicht. Nach Safadis zweitem Verschwinden wandten sich mehr als 30 Menschenrechtsorganisationen mit einem Bittbrief an den syrischen Staat, Aktivisten weltweit fluteten das Netz mit dem Hashtag #freebassel. Nach den meisten Verschwundenen in Syrien fragte nie ein Mensch, Safadi aber war bekannt und vernetzt: Als Programmierer hatte er den Browser Mozilla mitentwickelt und war Teil des Teams von Wikipedia. Das US-Magazin Foreign Policy hatte ihn noch im Jahr seiner Verhaftung auf Platz 19 der "Top 100 Global Thinker"-Liste gewählt.

Die Zeit der Ungewissheit sei schlimmer als Folter gewesen, sagt Noura Ghazi. "An manchen Tagen dachte ich sogar, tot zu sein wäre besser." Sie stürzte sich in Arbeit, kümmerte sich um Menschen mit ähnlichen Fällen, um die große Leerstelle im eigenen Leben zumindest zeitweise zu vergessen. "Wenn ein geliebter Mensch einfach verschwindet, kreisen die Gedanken nur um ihn. Lebt er noch? Wo mag er sein? Wie geht es ihm? Könnte ich noch einen weiteren Beamten bestechen, um an Informationen zu kommen?"

Die Lähmung, die diese Psychofolter bei Angehörigen auslöst, sei Absicht und erklärtes Ziel der Geheimdienste gewesen, da ist sich Ghazi sicher. Dass Syriens Regime sehr genau Buch führt über seine Häftlinge, Folterungen und Hinrichtungen, belegen auch die 53 275 Fotos, die ein Militärfotograf aus dem Land schmuggeln und 2014 veröffentlichen konnte.

Der Mann mit dem Decknamen Caesar dokumentierte im Auftrag des Militärgeheimdienstes mindestens 6786 Leichen, die aus fünf Gefängnissen in Militärkrankenhäuser eingeliefert worden waren. Sie trugen Spuren von Folter, waren ausgehungert, nackt, mit Nummern versehen. Dass der syrische Staat ein sehr gründlicher und sehr bürokratischer Meister des Todes ist, belegten auch Dokumentationen von Amnesty International zum Foltergefängnis in Sednaya. Auch das US-Außenministerium veröffentlichte 2017 Indizien, dass in dem Komplex bei Damaskus täglich bis zu 50 Menschen hingerichtet werden.

Viele Familien trauern lieber im Stillen. Aus Angst vor Repressalien

Seit Ende April nun bekommen Familien in Syrien plötzlich Anrufe von Behörden, andere erhalten kommentarlos Totenscheine zugestellt, auf denen Herzversagen oder Kreislaufkollaps vermerkt sind - oft Jahre, nachdem der Ehemann, die Schwester oder das Kind wirklich gestorben sind. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte gibt an, 400 Fälle lückenlos dokumentieren zu können. Ghazi, die im vergangenen Jahr mit sechs weiteren Frauen die Organisation "Families for Freedom" gründete, mit der sie international auf das Schicksal der Verschwundenen und ihrer Angehörigen aufmerksam machen will, sagt, sie habe Belege für mehr als 600 Fälle. Im Netz kursieren Listen mit bis zu 4000 Namen. Und obwohl viele Familien aus Angst vor Repressalien lieber im Stillen trauern, kommen täglich neue dazu.

Dass der Staat zwar nicht seine Verbrechen, aber zumindest den Tod so vieler Bürger in seinem Gewahrsam einräumt, liegt wohl daran, dass Damaskus bereits an die Zeit nach dem Krieg zu denken beginnt. Das Thema der Verschwundenen sei zu groß und durchziehe zu weite Teile der Gesellschaft, um es auf ewig tabuisieren zu können, sagt ein Ex-Diplomat, der in vielen Runden zum Syrienkonflikt mitverhandelt hat und bis heute Kontakte zu vielen Seiten pflegt. "Der Verbündete Russland hat Syrien lange gedrängt, das zu machen", sagt er. Auch wenn es ein Schritt sei, "der mit Schmerzen und Risiken behaftet ist".

Auch Noura Ghazi fühlt nun noch einmal Schmerzen: Sie weiß immer noch nicht genau, wie ihr Mann Bassel hingerichtet wurde, noch weniger, wo er verscharrt wurde. Doch wie viele andere kennt sie nun das konkrete Datum, an dem sie ihren Liebsten verlor. "Ich bin immer noch im Schock", sagt sie, "nur zwei Tage, nachdem ich ihn das letzte Mal sah, haben sie ihn getötet. Schon am 5. Oktober 2015 starb Bassel - manche Beamte haben mir noch jahrelang ins Gesicht gelogen, er würde leben".

Dass der Schritt auch Risiken für das Regime trägt, zeigt die Konsequenz, die Ghazi aus ihm zieht: Sie will weiterarbeiten, bis das Regime gezwungen ist, die komplette Wahrheit über die Toten zu enthüllen. "Das wird Syrien für immer verändern", ist sich die Witwe sicher. "Das könnte zu einer neuen Revolution führen."

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