Bürgerkrieg in Syrien:Islamistische Rebellen stehen kurz vor Aleppo

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Kämpfer der Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Scham auf dem Weg zu den Kämpfen in der Provinz Aleppo. (Foto: Abdulaziz Ketaz/AFP)

Diktator Assad lässt die Aufständischen in der Region Idlib immer heftiger mit Drohnen beschießen – die reagieren mit einer überraschenden Offensive. Syriens Truppen schlagen zurück, und wieder mischt Russland mit.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Es sind Meldungen, wie sie aus Syrien lange nicht mehr gekommen sind. Einheiten von Hayat Tahrir al-Scham, kurz HTS, einer islamistischen Rebellengruppe, sind offenbar an der Front im Nordwesten des Landes durchgebrochen und stehen kurz vor Aleppo. Von knapp vier Kilometern Distanz zur Stadt war am Donnerstagabend die Rede. 

Die Kämpfer kontrollieren die Provinz Idlib an der türkischen Grenze, dort sind auch türkische Soldaten stationiert. Die Frontlinie zu den Stellungen des Assad-Regimes hatte sich seit Jahren kaum verändert. Am Mittwoch dann starteten Einheiten der HTS und anderer Gruppen einen Angriff auf die Armee des Diktator Baschar al-Assad. Dabei eroberten sie, so meldet es die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, mehrere Städte und Dörfer sowie eine wichtige Militärbasis.

Hängt vom Schicksal Aleppos die Zukunft des Diktators ab?

Noch in der Nacht reagierten die Armee und ihre russischen Verbündeten. Die russische Luftwaffe flog Angriffe hauptsächlich auf die eroberten Dörfer. Assad selbst ließ Streumunition auf Idlib feuern, dabei starben mehrere Menschen; dazu kamen auf beiden Seiten der Front Dutzende Soldaten und Kämpfer ums Leben. 

Assad dürfte bereit sein, alles zu tun, um den Angriff schnellstmöglich abzuwehren. Aleppo war die Stadt, die den Verlauf des syrischen Krieges bestimmte, und damit auch das Schicksal des Staatschefs. Zwischen 2013 und 2017 war sie geteilt, verschiedene Aufständische kontrollierten den Osten der Stadt, die Armee des Regimes den Westen. Spätestens als es Assad dank der Hilfe Russlands gelang, seine letzten Feinde aus Aleppo zu vertreiben, war klar, dass dieser Krieg ihn nicht die Macht kosten würde. 

Aleppo, nach Damaskus die zweitgrößte Stadt Syriens, hat also großen Wert für Assad. Doch in der Nähe von Aleppo liegen eben auch die verbliebenen Regionen des Landes, die er nie zurückerobern konnte. Einerseits Idlib im Westen; im Norden die Gebiete, die unter Kontrolle der Türkei stehen; und drittens jenes Drittel der Fläche, in dem die „Demokratischen Kräfte Syriens (SDF)“ das Sagen haben, das sind vor allem die Kurden, flankiert von US-Soldaten. 

Assad setzt auf Taktiken, die die Russen in der Ukraine anwenden

Dass Assad gern das gesamte Land kontrollieren würde, ist klar. Laut dem Analysten Charles Lister hat er in den vergangenen Monaten eine neue Art der Kriegsführung begonnen, vor allem in Idlib: Mehrere Hundert Kamikazedrohnen habe seine Armee seit dem Sommer auf die Provinz abgeschossen, so Lister. Es sei offensichtlich, dass Assad sich dabei neuer russischer Taktiken aus der Ukraine bediene. 

In Idlib leben mehrere Millionen Menschen. Die früher ländliche Provinz wurde über die Jahre zum Fluchtort von Syrerinnen und Syrern, die aus anderen Landesteilen flohen, in denen Assads Armee vorrückte. Dessen Drohnenkrieg dürfte sich gerade gegen sie richten, er soll die Gegner offenbar zermürben. Und sie bewegen, nach all den Jahren ihren Widerstand gegen das Regime aufzugeben. 

Für Assad schien es zuletzt gut zu laufen. Nach Jahren, in denen er als Kriegsverbrecher geächtet war, unter anderem wegen des Einsatzes von Giftgas gegen sein Volk, wird er nun wieder empfangen – nicht nur im Nahen Osten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan möchte den Kontakt zu ihm wieder aufnehmen. In Europa gibt es Stimmen, die fordern, mit ihm zu reden, damit syrische Geflüchtete abgeschoben werden können

Aus Konflikten außerhalb Syriens hält sich der Diktator zurzeit heraus

Aus dem Konflikt zwischen Israel und Iran hielt sich Assad heraus, so gut es ging. Zwar gehört er zur „Achse des Widerstands“, dem iranisch dominierten Bündnis, aber weder kam er der Hisbollah im Kampf gegen Israel zu Hilfe, noch protestierte er groß, wenn Israel, wie erst diese Woche geschehen, iranische Stellungen in Syrien angriff. Assad hat offenbar nichts dagegen, wenn die Kräfte geschwächt werden, die sich nach wie vor in Syrien aufhalten und mit denen er sich die Macht teilen muss.

Ruhig ist es in Syrien nie geworden. Das zeigen allein die weiteren Nachrichten dieser Woche: Die US-Armee griff ein Waffenlager an, das sie einer proiranischen Miliz zuschrieb; Israel flog Angriffe auf Nachschubwege der Hisbollah entlang der syrisch-libanesischen Grenze; SDF, ein kurdisch dominiertes Bündnis syrischer Rebellen, griff im Norden Syriens Kämpfer an, die mit der Türkei verbündet sind, eine Reaktion auf die dauernden türkischen Luftangriffe auf die Kurden. Weitere türkische Luftangriffe folgten dann sogleich.

Wie es nun in Idlib weitergeht, müssen die nächsten Tage zeigen. Die Frage ist, wie weit die HTS-Kämpfer vordringen – und auch, ob die Türkei, ihre Verbündeten, ihnen zu Hilfe kommt. Möglich ist, dass die Gefechte nicht lange dauern; möglich wäre aber auch ein neuer Krieg in der Region. Ein HTS-Kommandeur begründete die Offensive mit dem Terror der Drohnen des Assad-Regimes, der Vorstoß sei eine Antwort darauf. Außerdem habe man einer Großoffensive des Regimes zuvorkommen wollen. 

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