Süddeutsche Zeitung

Syrer in Deutschland:"Wir wissen genau, wie sich die Ukrainer gerade fühlen"

Viele Syrer in Deutschland erinnert Russlands Angriff an das, was in ihrer Heimat passiert ist. Tareq Alaows, der als erster Syrer in den Bundestag wollte, appelliert an die Regierung, Fehler von damals nicht zu wiederholen.

Interview von Dunja Ramadan

Im September 2015 kam der Syrer Tareq Alaows aus Aleppo in Deutschland an. Kurz danach griff Russlands Präsident Wladimir Putin in den Krieg in seiner Heimat ein - und verhalf damit Machthaber Baschar al-Assad letztlich zum Sieg. Monatelang bombardierten syrische und russische Truppen den Osten Aleppos, bis die jahrtausendealte Stadt dort in Schutt und Asche lag. Hunderttausende Menschen lebten in einem Belagerungszustand, ohne Wasser und Strom, es gab kaum etwas zu essen. Bis heute hält Moskau in Alaows Heimat die Fäden in der Hand. Heute arbeitet der Jurist als Rechtsberater für Geflüchtete und warnt: "Wir dürfen nicht noch einmal versagen."

SZ: Herr Alaows, Sie haben mit Blick auf die Ukraine gesagt, dass Sie sich an die ersten russischen Angriffe in Syrien erinnern. Wo waren Sie damals?

Tareq Alaows: Ich war mitten im Nirgendwo, in einem Auffanglager im Sauerland, einer ehemaligen Kaserne. Ich war damals ständig in Kontakt mit Menschen in Aleppo, wo ich kurz zuvor noch war. Vor meiner Flucht habe ich Kriegsverbrechen dokumentiert und beim Roten Halbmond gearbeitet, der Schwesterorganisation des Roten Kreuzes. Also hatte ich viele Kontakte vor Ort. Ich las, wie Russland sagte, man werde Zivilisten schonen, und sah wenig später all die verletzten Zivilsten, all die zerstörten Wohnhäuser auf Twitter.

Es war die gleiche Lüge wie jetzt im Krieg gegen die Ukraine. Seit Tagen habe ich das Gefühl, immer wieder denselben Moment zu durchleben. Es ist schrecklich.

Wie wirken die Bilder aus der Ukraine auf Menschen mit Fluchterfahrung?

Mir erzählen befreundete Syrer, wie sie sich zu Hause in Berlin verkriechen, und andere wiederum schreiben mir, dass sie unbedingt helfen wollen. Ich selbst kann nicht rumsitzen und nichts tun. Ich war auf vielen Solidaritätsdemos in Berlin und habe am Brandenburger Tor auch die Flagge der syrischen Revolution gesehen. Eine Freundin, die in Syrien Rettungssanitäterin war, will an die Grenze und humanitäre Hilfe leisten. Sie schrieb mir, ihr Schuldgefühl bringe sie fast um.

Warum Schuldgefühle?

Ich glaube, dieses Gefühl kennen alle meine Landsleute, die im Exil leben. Wir fühlen uns schuldig, weil wir in Sicherheit leben und die anderen Menschen in Syrien nicht. Sie leiden weiter. Nun sind es die Ukrainer, die von den Russen angegriffen werden. Wir wissen genau, wie sich das anfühlt: von der Welt verlassen.

Auch wir Syrer wollten damals Demokratie und Freiheit, aber die Russen haben sich eingemischt und uns das bis zum heutigen Tag verwehrt. Mir schreiben Syrer, dass sie ein Zimmer frei haben, dass sie Kleidung spenden wollen. Nur wohin damit? Deshalb haben wir von der Organisation Leave No One Behind gerade eine Online-Plattform organisiert, auf der wir die Hilfe koordinieren können.

Sie haben gewarnt, dass "wir nicht wieder versagen dürfen". Was meinen Sie damit?

Ich hätte mir schon damals klare und starke Sanktionen gegen Russland gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass die Menschenrechtsverletzungen der Russen durch massiven internationalen Druck beendet werden. Auch hätte ich mir einen anderen Umgang mit Schutzsuchenden gewünscht.

Ich bin damals von der Türkei mit dem Schlauchboot nach Lesbos und über Athen schließlich zu Fuß über die Balkanroute gekommen. Knapp zwei Monate habe ich dafür gebraucht. Ich will sagen: Die Situation 2015 war absehbar. Man hätte sich auf uns vorbereiten können. Trotzdem hat man sich gewünscht, dass wir einfach nicht kommen.

2021 kandidierten Sie als erster Syrer für die Grünen im Wahlkreis Oberhausen-Dinslaken für den Einzug in den Bundestag. Dann bedrohten Rechte Ihre Familie in Syrien, und Sie zogen Ihre Kandidatur zurück. Wenn Sie heute im Bundestag sitzen würden, was wäre Ihre Forderung?

Wir sollten jetzt nicht auf wirtschaftliche Interessen achten, sondern die Grenzen öffnen für Ukrainer, aber auch für Angehörige von Drittstaaten, die in der Ukraine leben. Wir dürfen jetzt nicht auf Bürokratie achten, sondern müssen die nötige Infrastruktur schaffen, damit die Menschen hier sicher und vor allem in Würde ankommen.

Apropos Würde. Es gibt auch viele kritische syrische Stimmen, die die Situation mit der von 2015 vergleichen. Sie sagen: Wow, jetzt geht es also doch, die Grenzen gehen auf, die europaweite Solidarität macht es möglich. Kein Stacheldraht, keine Lager, keine Konflikte mit Grenzsoldaten.

Ich sehe diesen Punkt, und die Frage, warum das so ist, muss ausdiskutiert werden. Aber gerade haben wir nicht die Zeit dafür. Menschenleben sind in Gefahr. Jetzt stehen andere Fragen im Fokus: Was müssen wir als Gemeinschaft tun? Ich habe damals Hilfe gebraucht und ich habe sie hier bekommen. Ja, es lief nicht alles reibungslos, ich lebte sechs Monate in einer Turnhalle, aber heute fühle ich mich als Teil dieser Gesellschaft, und wir haben jetzt eine große Verantwortung, als Syrer, als Deutsche.

Planen Sie irgendwann ein Comeback in die Politik?

Als Migrant in dieser Gesellschaft hat man keine zweite Option, als politisch aktiv zu sein, weil es Menschen braucht, die für sich selbst sprechen. Alles andere überlasse ich der Zeit. Jetzt gerade bin ich vor allem zivilgesellschaftlich aktiv.

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