Den Weg in den südlichsten Zipfel der Türkei säumen Olivenhaine, prall gefüllte Zitronenbäume, dazwischen leuchtet das Rot von Granatapfelblüten. Man könnte Yayladagi als Idyll bezeichnen, ein Kaff, in dem es selbst die Katzen nicht eilig haben, über die Straße zu kommen, weil kaum ein Wagen ihre Ruhe stört.
"Keiner schließt hier die Türe hinter sich zu, wenn er aus dem Haus geht", sagt Bauernsohn Mehmet. "Aber ob das so bleibt? Mit all den Syrern ..." In Yayladagi ist es mit der Ruhe nämlich vorüber, seit die Flüchtlinge über die Grenze strömen. Mehr als 5000 waren es bis zum Sonntag schon, die vor der syrischen Armee fliehen.
Im Ort sind sie nicht zu sehen, die Syrer. Die Behörden schirmen sie ab. Drei Lager haben die Türken bislang mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk errichtet, eines davon in Yayladagi. Und bisher überwiegen nicht Sorge und Bedenken, sondern Mitleid und Hilfsbereitschaft. Das gilt für die türkische Regierung ebenso wie für die Bürger. Und das hat hier in der Provinz Hatay seinen Grund: Die Zufluchtsuchenden sind für viele in diesem ethnisch bunt gemischten Flecken der Türkei Verwandte.
Für Mesut B. zum Beispiel, der ungeduldig durch den Zaun des Lagers späht. Seine Eltern hat der 35 Jahre alte Chef einer Reklamefirma mitgebracht, seinen Vetter, seine Tante und einen alten Onkel, der sich Tränen aus den Augen wischt. "Sie sagten uns gestern am Telefon, sie marschierten jetzt los, seither haben wir nichts mehr von ihnen gehört", sagt der Onkel. "Kennst du den Spielfilm 'Propaganda'?", fragt Mesut B. "Das ist unsere Geschichte."
Historische Teilung
"Propaganda" - das war ein Kassenschlager im Jahr 1999. Eine Tragikomödie, in der ein sturer türkischer Beamter in den vierziger Jahren mitten durch ein fiktives Bauerndorf die Grenze zieht zwischen Syrien und der Türkei - und mit einem Mal finden sich Brüder, Schwestern, Neffen, Onkel und natürlich Liebende auf zwei Seiten einer undurchdringlichen Grenze.
Die heutige Provinz Hatay war nämlich unter ihrem früheren Namen Alexandretta nach dem Ersten Weltkrieg Teil des französischen Syrien-Mandats gewesen - die Franzosen aber vermachten sie nach ihrem Abzug eben nicht Syrien, sondern 1939 der Türkei, ein Verlust, den Syrien bis heute nicht anerkennen möchte, ein Schritt, der Familien entzweite. "Unser Dorf Beysun wurde so geteilt", erzählt Mesut B. Der türkische Teil des Dorfes wurde später ein paar Kilometer weiter ins Landesinnere verlegt.
Seit sich unter der Regierung von Tayyip Erdogan das Verhältnis zwischen den einst bitteren Feinden Türkei und Syrien entspannte, waren Besuche zu religiösen Festtagen wieder erlaubt, dann kam 2009 gar die Abschaffung des Visumszwangs. Mit einem Mal stehen all diese Freiheiten wieder in Frage.
Syrien und die Türkei:Leid und Mitleid
Mehr als 5000 syrische Flüchtlinge sind bereits in die Türkei geflohen. Sie stoßen bei den Nachbarn auf Hilfsbereitschaft - noch jedenfalls.
Familie B. wartet nun auf zehn Männer, Frauen und Kinder aus der syrischen Verwandtschaft. "Wir haben ihnen gesagt: Vertraut euch türkischen Grenzposten an, habt keine Angst", erzählt Mesut B. Spielzeug für die Kinder hat er mitgebracht, Windeln für das Baby. Babys gibt es einige im Camp, eines wurde vor drei Tagen erst dort geboren, die Eltern gaben ihm, wie die türkische Presse stolz vermeldete, den Namen "Recep Tayyip", das ist der Vorname von Premier Erdogan.
Erdogan hat sich lange geziert, klare Worte zum blutigen Vorgehen des Nachbarstaates zu äußern, telefonierte immer wieder mit Syriens Präsident Baschar al-Assad, versuchte, ihn zu Reformen zu bewegen. Vergangenen Freitag dann, nach den Massakern in der Stadt Dschisr al-Schughur, die Kehrtwende: Erdogan beschuldigte die syrische Armee, "Gräueltaten" zu begehen, nannte das Vorgehen "unmenschlich". Die Tore zur Türkei, versprach Erdogan, sollten den fliehenden Syrern, darunter Verwundete, vorerst offen stehen. Mehr als zehntausend sollen im Moment auf der anderen Seite der Grenze campieren.
Gefahr Presse
In Yayladagi fließen derweil Tränen der Freude. Zwei junge Frauen, verschleiert und schüchtern, kommen aus einem Zelt, laufen auf den Zaun zu, heben die Arme: die Verwandten von Familie B. haben es geschafft. Wenige Umarmungen durch den Zaun hindurch nur gestatten die Wachen, ein paar Sätze werden gewechselt, Mesut B. übersetzt. "Unsere Männer haben uns schon vor drei Tagen in die Berge gebracht. Die Armee hat unsere Häuser zerstört und Tiere getötet. Sie soll auch das Wasser vergiftet haben." Die Wachen drängen sie weg vom Zaun.
Die türkische Presse war bis zum Wochenende voll mit Erzählungen von Flüchtlingen. Frauen, die berichten, man habe ihre Männer erschossen, desertierte Soldaten, die erzählen, man habe sie zum Morden gezwungen. Die türkischen Behörden unterbinden mittlerweile jeden Kontakt zur Presse. Syrer, die mit Bild in türkischen Medien zu sehen waren, sollen nach ihrer Rückkehr in die Heimat von Geheimdienst oder Armee verschleppt worden sein. Ein türkischer Bauer, der am Camp vorüberläuft, sieht die Reporter und ruft erregt: "Wieso gefährdet ihr Journalisten diese Leute?"