Der Soziologe Sven Lewandowski untersucht Amateurpornografie. So leitet er Erkenntnisse über alltägliche Sexualität ab, die der Forschung sonst verwehrt bleiben. Ein Gespräch über Vorlieben, den Fernseher im Hintergrund - und die Frage, was langjährige Paare den meisten One-Night-Stands voraus haben.
SZ-Magazin: Herr Lewandowski, für eine soziologische Studie der Universität Bielefeld untersuchen Sie Paare, die sich selbst beim Sex filmen. Wie kommen Sie zu diesem Forschungsfeld?
Lewandowski: Würden Sie das einen Physiker auch fragen?
Vermutlich nicht. Aber Physiker erforschen auch eher selten Amateurpornographie.
Das tut ja kaum jemand. Und letztlich liegt darin schon eine erste Erklärung für meine Arbeit. Die ganz normale, alltägliche Sexualität von Menschen ist kaum erforscht. Es gibt zwar einige Studien über Pornos, aber da geht es um die Fragen: Wie wirkt Pornografie? Was macht Pornografie mit Menschen? Dabei finde ich die umgekehrte Frage viel spannender: Was machen Menschen mit Pornografie?
Um das herauszufinden, schauen Sie sich Videos von Paaren an, die sich beim Sex filmen und führen dann lange Interviews mit ihnen. Wer macht da mit?
Die Menschen, mit denen wir reden sind zwischen Anfang Zwanzig und Anfang Siebzig. Menschen aus allen Milieus, vom Land und aus Städten. Einzige Voraussetzung: Sie müssen sich einvernehmlich beim Sex gefilmt haben, uns dieses Material zur Verfügung stellen und mit uns darüber reden wollen. Mal sind es One-Night-Stands, mal langjährige Paare. Bisher machen vor allem heterosexuelle Paare mit. Die Gespräche dauern oft mehrere Stunden.
Was ist das Ziel ihrer Forschung?
Wir wollen möglichst genau beschreiben, wie alltägliche Sexualität aussieht. Das klingt so einfach, ist aber quasi unerforscht. Meist stützt sich die Wissenschaft auf Interviews oder Befragungen mit Paaren. Aber Menschen sind sehr schlecht darin, selbst zu beschreiben, wie sie Sex haben. Es ist kaum möglich, Bewegungsabläufe zu beschreiben, die quasi automatisiert sind. Probieren sie es ruhig mal aus. Wenn Sie nicht über Sex reden wollen, dann meinetwegen über Schwimmen oder Autofahren. Sie werden merken: Da kommt wenig Brauchbares heraus. Meist etwas wie: Also, ich winkle mein Bein an, und dann schwimm ich halt. Das bringt uns aber nicht weiter - und zeigt ein grundsätzliches Problem der Sexualwissenschaft: Ihr fehlt der Zugang zur sexuellen Praxis. Das eigentliche Thema, der tatsächliche Sex, ist in der Forschung dramatisch unterrepräsentiert.
Die Sexualforscher William Howell Masters und Virginia Johnson haben amerikanische Paare in den Sechzigerjahren beim Sex im Labor untersucht.
Und genau von dieser Art von Forschung grenzen wir uns ab. Denn über die alltägliche sexuelle Praxis erfährt man dadurch nichts. Kein Mensch hat doch normalerweise Sex im Labor. Bei solchen Labortests schwingen viele naturalistische Vorurteile mit, nämlich das Sex immer gleich funktioniert. Und das stimmt eben nicht. Sex ist extrem vielfältig und unterschiedlich und viel mehr als der reine Geschlechtsakt. Also haben wir uns gefragt: Wie kann man möglichst genaue Einblicke in die sexuelle Praxis bekommen - und sind bei Amateurpornos gelandet. Die sind natürlich auch kein unmittelbarer Blick in die Sexgewohnheiten der Menschen, aber es ist die wohl beste Möglichkeit, Menschen beim Ausüben ihrer Sexualität zu untersuchen.
Was genau untersuchen Sie bei solchen Videos?
Zunächst mal ist es uns wichtig, nur Videos von Menschen auszuwerten, die danach auch mit uns reden wollen. Einfach nur Amateur-Pornos zu analysieren wäre uns zu wenig, denn da erfährt man meist nichts über den Kontext. Wenn wir Videos bekommen, beschreiben wir zunächst detailliert alles, was wir sehen. Jede Bewegung, jedes Geräusche, alles was die Paare sagen, flüstern, stöhnen. Und noch mehr: Wie bewegt sich die Kamera? Wie sieht es in den Zimmern aus? Für eine Minute Film schreiben wir zehn Seiten Text. Damit wollen wir erstmal Daten schaffen, alles sammeln und aufschreiben und für die Wissenschaft erschließbar machen. Es fühlt sich an, als zeichne man die Landkarte eines unerforschten Gebiets.
Alfred Charles Kinsey, einer der Urväter der Sexualforschung, war Zoologe, also auf die genaue Beobachtung von Tieren spezialisiert. Sehen Sie Parallelen in Ihrer Arbeit?
Höchstens darin, dass wir mit einer gewissen Distanz und Präzision auf unser Forschungsfeld schauen. Aber Kinsey hat ja nur Befragungen gemacht, wir beschreiben mit enormem Aufwand jede Szene in dieser Art: Linke Hand von Frau stützt sich am Bett ab erhebt sich und bewegt sich wieder.
Was ist in den Videos zu sehen, die sie bekommen?
Es ist alles dabei, von 10-sekündigen Handyclips bis zu Aufnahmen, bei denen das Paar die Kamera irgendwo hinstellt und 40 Minuten einfach laufen lässt. Oft spielt sich der Sex im Schlafzimmer ab, mal im Flur, in anderen Zimmern oder auch unter freiem Himmel. Was die Videos zeigen, hängt oft von der Kameratechnik ab: Manche Sexpraktiken lassen sich besser filmen als andere. Fellatio kann man als Paar recht gut filmen, Cunnilingus eher schwer, da hat man ein Ausleuchtungsproblem.
Ich meinte die Frage eigentlich weniger technisch.
Naja, der Sex ist vermutlich das, was bei den Paaren der normalen Sexualität entspricht, also das, was die Menschen auch miteinander tun, wenn die Kamera gerade nicht läuft. Wir bekommen Videos von vertrautem Kuschelsex und Filme von Paaren, die ihre Kleidung tauschen und die Frau den Mann mit einem Dildo penetriert. Oder Filme von Menschen die sich beim anonymen Sex mit Fremden auf Parkplätzen filmen. Mal ist der Sex eher romantisch, mal geht alles ganz schnell. Mal dominiert der Mann, mal gibt die Frau den Ton an. Mal scheint sich das Paar extra für den Sex aufreizend angezogen zu haben, mal läuft nebenher der Fernseher.
Welche Sendungen laufen da?
Bei einem Paar lief tatsächlich im Hintergrund die "Heute Show".
Nicht ihr Ernst.
Das klingt natürlich erstmal lustig, hat für uns Forscher aber einen großen Vorteil. Wir gehen davon aus, das niemand zum Sex absichtlich die "Heute Show" anmacht. Also ist der Sex genau das, was wir eigentlich untersuchen wollen: ein spontan gefilmtes Video.
Welche Funktion hat der gefilmte Sex für die Paare?
Es ist erstmal Selbstdokumentation, ähnlich wie das Fotoalbum, was man früher geführt hat. Es geht darum, Gemeinsamkeit zu dokumentieren, möglicherweise auch den Augenblick konservieren. Damit unterscheidet sich der Amateurporno nicht vom Urlaubsalbum. Manche erzählen uns, dass sie aus beruflichen Gründen eine Fernbeziehung führen mussten, und sich dann Videos hin- und hergeschickt haben. Und dann gibt es die Paare, die das gemeinsame Filmen einfach erregt. Entweder der Reiz, zu wissen: Das könnte jemand anderes sehen. Oder Paare, die das Handy oder die Kamera als eine Art Sexspielzeug verwenden.
Zum Beispiel?
Beim Sex gibt der Mann der Frau das Handy und sie schaut sich an, was sie vorher beim Sex gefilmt haben.
Gibt es Zahlen darüber, wie viele Menschen sich beim Sex filmen?
Nein. Es gibt keine seriöse Forschung dazu.
Sie betrachten ja nicht nur die Videos, sondern führen auch lange Interviews mit den Paaren. Was wollen Sie von ihnen wissen?
Meist stellen wir nur ein paar Einstiegsfragen und dann beginnen die Paare zu erzählen. Über ihre Erfahrungen, Vorlieben, ihre Beziehungen, was immer sie ansprechen wollen. Oft reden wir über konkrete Szenen aus den Videos, wenn jemand zum Beispiel plötzlich kichert beim Sex, dann fragen wir: Was war da los? Und immer wieder zeigen die Paare im Gespräch auch noch weitere Videos oder Bilder, ein bisschen wie bei Erzählungen über eine besonders schöne Urlaubsreise.
Wer filmt öfter? Der Mann oder die Frau?
Die Videos entstehen immer zusammen, aber die Kamera führt meist der Mann. Aber meist entscheidet die Frau, was mit den Aufnahmen passiert.
Was machen die Paare mit den Videos, wenn sie sich trennen?
Ein Mann hat erzählt, dass er immer nur mit dem Handy seiner Partnerin filmt. Dann kann sie entscheiden, was mit den Aufnahmen passieren soll. Sie hat also die Kontrolle über die Bilder - und kann sich überlegen, ob und welche Videos sie ihm schickt. Es scheint also zumindest manchmal explizite Regeln zu geben, wer den Zugriff auf die Videos hat. Und mir ist sehr oft aufgefallen, dass die Frauen entscheiden, was gelöscht wird.
Was hat sie am meisten überrascht bei Ihrer Forschung?
Man kann an der Art, wie die Paare Sex haben, erkennen, wie lange sie schon zusammen sind.
Das kann man am Sex erkennen?
Teilweise schon. Zum Beispiel daran, wie sie mit Pannen umgehen, wenn mal was nicht klappt, etwas rausrutscht, ein zärtlich gemeinter Biss in die Brustwarze zu heftig ausfällt. Eingespielte Paare lassen sich davon überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, beheben die Panne und machen einfach weiter. Bei One-Night-Stands ist in solchen Momenten eine gewisse Unsicherheit zu erkennen.
Wie kommen Paare auf die Idee, sich beim Sex zu filmen?
Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Man könnte ja meinen, dass es erst mit Smartphones richtig losgegangen ist mit den selbstgemachten Sex-Tapes. Aber ein Teilnehmer unserer Studie ist über Siebzig und hat sich früher schon mit der Videokamera gefilmt, und vorher mit Super 8. Amateurpornographie ist kein neues Phänomen.
Wie hat sich die Amateurpornographie in den letzten Dekaden verändert?
Ich bin kein Medienhistoriker, aber ich kann zumindest sagen, dass sich natürlich die technische Qualität enorm verbessert hat. Heute hat ja jeder mit einem Smartphone eine gute Kamera in greifbarer Nähe. Und die Verbreitung hat sich verändert. Es gab auch früher private Tauschbörsen für selbstgemachte Pornos, aber heute ist es ja ein richtiger Markt dafür im Internet. Wobei ich sagen muss, dass viele Paare sich privat filmen ohne die Absicht, die Aufnahmen zu veröffentlichen. Die Entscheidung, die Videos dann doch irgendwo hochzuladen, kommt manchmal erst deutlich später.
Warum?
Ein Paar hat erzählt, dass sich einer der Partner nicht attraktiv fand, daraufhin hat der andere gesagt: Komm, wir filmen uns, dann siehst du, wie toll du aussiehst. Und später haben sie das Video ihren Freunden gezeigt, die auch meinten: Sieht toll aus. Und diese Bestätigung hat dem Paar so gut gefallen, dass sie sich entschlossen haben, das Video im Internet zu veröffentlichen. Wobei so eine Veröffentlichung dann auch wieder unerwartete Probleme mit sich bringt.
Zum Beispiel?
Jedes Video braucht auf den Amateur-Pornoseiten ja einen Titel. Darüber denken die Paare dann oft lange nach, wie sie ihre Filme nennen sollen. Und obwohl es den meisten überhaupt nicht ums Geld verdienen geht, scheinen sie sich einer Art Marktlogik zu unterwerfen und entscheiden sich oft für eher reißerische Titel. Also Paare, die in ihrem privaten Archiv viel harmlosen Kuschelsex gefilmt haben, versehen das Video dann aber mit einem eher expliziten Titel, vermutlich weil sie glauben, damit mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Erzählen die Paare auch, warum sie sich beim Sex filmen?
Die Gründe sind vielfältig. Manche erregt es einfach, sich selbst beim Sex zuzuschauen oder zu wissen, dass jemand anderes dieses Video sehen wird. Und ein Paar berichtete uns im Interview, dass sie mit ihren Videos eine Art pädagogischen Ansatz verfolgen. Sie wollten einfach zeigen: Sex ist nicht nur diese perfekt produzierte, perfekt ausgeleuchtete Hochglanz-Porno-Welt. Sondern ein normaler Teil des Alltags.
Gibt es auch Paare, die versuchen, professionelle Pornos nachzuspielen?
Ja, die gibt es, aber meist leben die Leute ihre eigene Vorstellung von Sex vor der Kamera aus. Und wenn Paare solche etablierten Skripte aus Pornos nachspielen, geht es tendenziell auch eher schief. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen eher schlechte Schauspieler sind: Auch wenn sie etwas vorspielen wollen, setzen sie letztlich ihre übliche Sexualität durch. Nehmen wir ein ganz banales Beispiel: Viele sadomasochistischen Fantasien wirken erstmal super, aber wenn man es umsetzt stellt man fest: Es tut furchtbar weh, und wenn man Pech hat, schläft auch noch das Bein dabei ein.
Alle Details zur Studie - und eine Kontaktmöglichkeit für Paare, die sich an der Forschung beteiligen wollen, findet man auf der Seite der Universität Bielefeld.
Das Interview ist zum ersten Mal am 14. August 2020 im SZ Magazin erschienen.