Supreme Court verhandelt über Obamacare:"Es droht die Tyrannei"

Das Oberste Gericht entscheidet über die Rechtmäßigkeit des wichtigsten Gesetzes von Präsident Obama. Während einige Richter Bedenken äußern, ringen vor dem Supreme Court Gegner und Befürworter von Obamacare lautstark um die Meinungshoheit zum Thema Krankenversicherung. Auf Europäer wirkt dieser Zirkus bizarr.

Matthias Kolb, Washington

Supreme Court Hears Arguments On Constitutionality Of Health Care Law

Susan Clark trägt ein Indianerkostüm. Im Gesicht trägt sie Kriegsbemalung, so nennt sie selbst die rote Farbe. Clark demonstriert vor dem Supreme Court in Washington gegen Obamacare.

(Foto: AFP)

Im Inneren des ehrwürdigen Supreme Courts geht es um die Rechtmäßigkeit der Gesundheitsreform, dem wichtigsten Gesetz von Präsident Obama. Die konservativen Richter zeigen deutlich ihre Skepsis - und draußen schreien Gegner und Befürworter von Obamacare ihre Slogans heraus. Sie buhlen um die Aufmerksamkeit der Journalisten und versuchen hin und wieder auch, die Gegenseite zu überzeugen.

Auf Europäer wirkt das faszinierend und befremdlich zugleich. Die Frage scheint Amy fast ein bisschen peinlich zu sein. "Du kannst bestimmt nicht verstehen, wieso wir Amerikaner über dieses Thema so sehr streiten, oder?", will die Studentin der George Washington University von mir wissen. Sie weiß, dass jeder Deutsche krankenversichert ist. Auf dem Plakat, mit dem sie vor das Gebäude des Obersten Gerichtshofs gekommen ist, steht geschrieben: "We are the only first world country where the working people are afraid of their medical bills. Fear isn't Freedom!"

Amy hat sich mit Freunden verabredet, um den neun Richtern über die Medien zu zeigen, dass es viele Amerikaner gebe, welche die von Präsident Barack Obama durchgesetzte Gesundheitsreform unterstützen. Tim hält ein "I like Obamacare"-Plakat hoch: "Ich finde es aus moralischen Gründen falsch, dass nicht alle Bürger dieses Landes abgesichert sind", sagt er. Wie viele Studenten sorgt er sich darum, was nach seinem Abschluss passiert: "Wenn ich keinen guten Job finde, kann ich mir keine Versicherung leisten und bin nicht mehr über meine Eltern abgesichert."

Tim ist überzeugt, dass durch Obamacare der Staat weniger ausgeben muss: "Heute befinden sich mindestens 40 Millionen Amerikaner außerhalb des Systems. Wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushalten, gehen sie in die Notaufnahme." Da die Armen keine Routineuntersuchungen erhalten, steigen die Behandlungskosten immens. Die Rechnungen müssen schließlich die Steuerzahler übernehmen. "Diese Leute ignorieren, dass sie auch heute schon für die anderen mitzahlen", meint Tim kopfschüttelnd und blickt zu einer Gruppe von Tea Party Patriots hinüber, die dank ihrer Megaphone nicht zu überhören ist.

Auf den Schildern der 20 Aktivisten steht "No to Obamacare", "We will not comply" ("Wir werden nicht nachgeben") oder in Anspielung auf den neuesten Blockbuster "Obamacare is the real Hunger Game". Als ich mich im Windschatten einiger Fotografen nähere, recken viele ein Exemplar der US-Verfassung empor. "The constitution matters. The constitution matters", brüllt ein Mann mit Cowboyhut und Sonnenbrille ins Megaphon, hinter ihm wehen die Stars and Stripes sowie eine Fahne mit dem Tea-Party-Logo im Wind: Sie zeigt eine Klapperschlange vor gelbem Hintergrund und den Slogan "Don't tread on me".

Nein, auf ihnen herumtrampeln möchte ich nicht, sondern nur ihre Argumente hören. "Zeigen Sie mir die Stelle in der Verfassung, in der steht, dass jeder Bürger eine Krankenversicherung braucht", ruft eine junge Tea-Party-Anhängerin einer Rentnerin zu, die sich aus dem Pro-Obamacare-Lager herübergetraut hat. Vor den Augen und Ohren der Medienvertreter entspinnt sich eine Diskussion. Die alte Dame argumentiert ähnlich wie die Studenten mit Appellen an Solidarität und Gerechtigkeit, doch die Gegnerin ruft nur: "Wenn die Richter ihnen das durchgehen lassen, dann droht die Tyrannei. Die Regierung wird dafür sorgen, dass wir nicht mehr aussprechen dürfen, was wir denken."

Damit ist der Grundkonflikt gut beschrieben, dem die neun Richter unter Vorsitz von Chief Justice John Roberts (mehr über dessen herausgehobene Stellung in diesem SZ-Artikel) in der dreitägigen Anhörung nachspürten. Denn es geht nicht um die Frage, ob eine Krankenversicherungspflicht erstrebenswert wäre und das Leben von Millionen Amerikanern verbessern würde, sondern inwieweit die Regierung die Bürger zwingen darf, eine private insurance abzuschließen.

"Was kann die Regierung noch alles machen?"

Antonin Scalia, einer der Richter, formulierte in höflicheren Worten die Bedenken der krakeelenden Obamacare-Gegner: "Wenn die Bundesregierung das machen kann, was kann sie dann noch alles machen?" Um vor dem Staatszwang zu warnen, hällt ein Demonstrant ein Schild mit der Aufschrift "I don't like broccoli" in die Luft - Obamacare-Gegner möchten damit zum Ausdruck bringen, dass die Regierung die Amerikaner in einem nächsten Schritt zwingen könnte, das grüne Gemüse zu essen, um Krankheiten vorzubeugen. Die Vertreter der Obama-Regierung argumentieren, dass die Krankenversicherung ein "einmaliger Fall" sei - und die unversicherten Amerikaner bereits jetzt Teil des Systems seien, da die Kosten von der Allgemeinheit übernommen würden.

Nach Ansicht von Rechtsexperten (mehr Infos in diesem SZ-Artikel) deuten die kritischen Fragen mehrerer Richter darauf hin, dass eine knappe Mehrheit gegen die Rechtmäßigkeit des "individuellen Mandats" stimmen könnte. Fünf Juristen, die von republikanischen Präsidenten berufen wurden, gelten als konservativ, während die übrigen vier Mitglieder des Supreme Courts als progressiver gelten. Nach den drei Tagen gilt es auch als denkbar, dass das Oberste Gericht das gesamte Gesetz für nichtig erklären könnte.

Die Demonstranten haben die Fragen der Richter während der Anhörungen, die im Internet nachzuhören sind (etwa auf der Website der New York Times), genau verfolgt und geben sich siegessicher. "Ich vertraue dem Gericht", sagt die engagierte Diskutantin von den Tea Party Patriots. Sie stellt sich als Jill vor und trägt einen Anstecker an ihrer Jacke, auf dem geschrieben steht "Give me Liberty or give me death."

"Obama schert sich nicht um mich"

Sie werde im Juni wieder vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs stehen, erzählt mir Jill. Dann werden die neun Richter ihr Urteil verkünden und damit den Präsidentschaftswahlkampf beeinflussen. Mit Sicherheit wird Jill dann nicht alleine sein: Hunderte Journalisten hatten bereits vor dem Gericht ausgeharrt, um die Auftritte von Republikanern wie Rick Santorum (Video seiner Rede bei Politico.com) und Michele Bachmann zu filmen.

Und ebenso wie die Obama-Fans werden wohl auch der Abtreibungsgegner ("Obama schert sich nicht um mich. Machen Sie sich nicht zum Komplizen von Abtreibung.") und die Dame im Indianerkostüm und mit Kriegsbemalung (eine Anspielung auf die erste Boston Tea Party 1773) wieder da sein. Beide ließen sich bereitwillig von Journalisten und Touristen fotografieren und erklärten ihre Weltsicht. Eine weitere Gelegenheit, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, werden sie nicht verpassen wollen.

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