Süddeutsche Zeitung

Richter billigen Obamas Gesundheitsreform:Ein Urteil, das allen nutzt

"Danke für diese Entscheidung": Während US-Präsident Obama das Urteil des Supreme Courts als wichtigen Sieg feiert, freuen sich auch Sarah Palin und andere Konservative. Herausforderer Romney hofft, dass die Wut der Tea-Party-Aktivisten viele frustrierte US-Bürger an die Wahlurnen treibt. Doch wenn er alleine darauf setzt, wird er scheitern.

Matthias Kolb

Der Präsident gab sich in seiner Fernsehansprache äußerst zufrieden. "Die heutige Entscheidung war ein Sieg für die Menschen im ganzen Land", sagte Barack Obama wenige Stunden, nachdem der Oberste Gerichtshof seine Gesundheitsreform für verfassungskonform erklärt hatte. In diesen Tagen ist der US-Präsident stets auch Wahlkämpfer: "Es sollte jetzt ziemlich klar sein, dass ich das nicht getan habe, weil das gute Politik war. Ich habe es gemacht, weil es gut für Amerika ist."

Doch auch Obamas Herausforderer Mitt Romney präsentierte sich siegessicher. "Am ersten Tag meiner Präsidentschaft werde ich erledigen, was der Supreme Court am letzten Tag vor der Sommerpause nicht getan hat. Ich werde alles daran setzen, Obamacare abzuschaffen", sagte der Republikaner in seiner Reaktion auf die knappe Entscheidung der neun Richter. Er bezeichnete das Gesetz als "Jobkiller" und rief die Wahl am 6. November zur Entscheidung über die im Land so unbeliebte Versicherungspflicht aus: "Wenn wir Obamacare loswerden wollen, müssen wir den Präsidenten ablösen."

Es klingt paradox: Der Urteilspruch des Obersten Gerichtshofs ist sowohl für Barack Obama wie für Mitt Romney die bestmögliche Variante. Für den Demokraten ist er ein klarer Erfolg, dem Republikaner erlaubt er, weiterhin an einem klaren Feindbild festzuhalten. Nun steht fest, dass das wichtigste Reformwerk von Obamas erster Amtszeit Bestand hat und es sich für ihn doch gelohnt hat, dafür andere Themenfelder wie etwa die Klima- und Einwanderungspolitik vernachlässigt zu haben (mehr zu Obamas Pyrrhus-Sieg in diesem SZ-Leitartikel).

Dank Obama bekommen bis zu 50 Millionen US-Bürger, die vom bisherigen System ausgeschlossen waren, von 2014 an Zugang zu einer Krankenversicherung. Dem 50-Jährigen ist damit eine Reform gelungen, an der etwa Bill Clinton gescheitert war, und deren Bedeutung nach Ansicht des Historikers Robert Dallek in der New York Times nur mit der Einführung der Sozialversicherung durch Franklin Delano Roosevelt sowie dem von Lyndon B. Johnson durchgesetzten Start der staatlichen Medicare-Versicherung zu vergleichen ist: "Dieser Schritt macht die amerikanische Industriegesellschaft menschlicher."

Dieser Erfolg, so die Hoffnung im Weißen Haus und in der Wahlkampfzentrale in Chicago, soll die Millionen enttäuschten Obama-Wähler überzeugen, Amerikas ersten schwarzen Präsidenten eine zweite Amtszeit zu sichern. Wenige Stunden nach der Entscheidung warb Obamas Wahlkampfmanager Jim Messina schon wieder um Spenden. Die Betreffzeile der E-Mail ist an Klarheit kaum zu überbeiten: "Let's win the damn election."

Doch das konservative Amerika brauchte nur kurz, um sich vom Schock zu erholen, dass der Oberste Richter John Roberts (lesen Sie hier ein SZ-Porträt des Chief Justice) entgegen der allgemeinen Erwartung gemeinsam mit den vier liberalen Richtern die Verfassungsmäßigkeit von Obamacare attestiert hatte. Eric Cantor, der Chef der Republikaner im Repräsentantenhaus, will am 11. Juli über die Abschaffung des Gesetzes abstimmen lassen - ein Akt reiner Show-Politik, da der Senat von den Demokraten kontrolliert wird.

Das Romney-Lager nutzte das Urteil nicht nur, um bei Twitter mit Hashtags wie #fullrepeal die Basis zu motivieren, sondern auch zum fundraising: Sprecherin Andrea Saul jubiliert per Tweet, am Tag der Entscheidung seien mindestens 3,2 Millionen Dollar gespendet worden. Im fernen Alaska tippte Sarah Palin, Ex-Vizepräsidentschaftskandidatin und Tea-Party-Ikone, folgende Worte auf ihre Facebook-Seite: "Vielen Dank, Supreme Court. Dieses Urteil wird den Amerikanern die Augen öffnen und unsere Truppen motivieren und anstacheln. Gott sei Dank!"

Erick Erickson, Gründer des konservativen Blogs redstate.com, ist gar überzeugt, dass Richter Roberts mit seinem Schwenk Romney den Weg ins Weiße Haus geöffnet habe: Umfragen zufolge lehnen 60 Prozent der Amerikaner die Gesundheitsreform ab, weshalb es für die Republikaner nur gut sein könne, die Wahl im November zur Abstimmung über Obamacare zu machen.

Allerdings vergisst oder verdrängt Erickson offenbar, dass Mitt Romney als Gouverneur von Massachusetts ein ähnliches Gesetz zur Einführung einer verpflichtenden Krankenversicherung durchgesetzt hatte. Wirklich überzeugend ist Romneys Argument für den Meinungswechsel nicht: Er verweist vor allem darauf, dass Obamacare ein monströses und handwerklich schlechtes Gesetz sei. Dies mag den treuen Republikanern genügen, auf die entscheidenden Wechselwähler wirkt es opportunistisch.

Hätte das Oberste Gericht nun das individuelle Mandat, das die Bürger unter Strafandrohung zur Versicherung verpflichtet, gekippt, wäre die Situation für Romney noch viel heikler gewesen: Er wäre gezwungen gewesen, seine Vorstellungen zu präzisieren. So kann seiner Basis, die Obamacare für den "Einstieg in die Tyrannei" hält, weiter versprechen, dass er die Reform am ersten Tag im Weißen Haus abschaffen wolle.

Langjährige Beobachter wie Ryan Lizza vom New Yorker halten diese Ankündigung jedoch für reine Wahlkampfpropaganda: Selbst wenn Romney gegen Obama gewinnen sollte, werden die Republikaner kaum über umfassende Mehrheiten im Kongress verfügen, was vor allem den demokratischen Senatoren viel Macht und Blockademöglichkeiten beschert. Und da zum 1. Januar 2013 ein umfassendes Paket aus Ausgabenkürzungen, Sozialreformen und möglichen Steuererhöhungen ausgehandelt werden muss, kann Romney diese Reform kaum revidieren: "Die Republikaner haben nichts, was sie den Demokraten im Gegenzug anbieten können, damit diese ihre wichtigste Errungenschaft seit den sechziger Jahren opfern."

Eines scheint jedoch gewiss: Die Haltung der Amerikaner zu Obamacare allein wird nicht entscheiden, wer 2013 vom Weißen Haus aus regiert. In den meisten Umfragen liegt die Zahl derjenigen, die Gesundheitspolitik als wichtigstes Thema nennen, unter zehn Prozent, während sich mehr als die Hälfte der Amerikaner Sorgen um ihre Jobs und die Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft macht. Barack Obama oder Mitt Romney - wer bei diesem Thema überzeugender auftritt, wird im November siegen.

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