Suhrkamp bringt Polen-Lexikon heraus:Das Alphabet der polnischen Wunder

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Je näher uns ein Nachbar ist, desto mehr Fragen haben wir an ihn. Dieses Lexikon klärt manches Gerücht, das über Polen kursiert.

Diedrich Diederichsen und Radek Knapp

Club der polnischen Versager 2001 gegründet, hatte er seine der Allgemeinheit zugänglichen Clubräume bis Mai 2007 in der Berliner Torstraße, nur ein paar Schritte vom Kaffee Burger entfernt, was kein Zufall war. Jeden Samstag gibt es hier "Russendisko" mit Wladimir Kaminer, dem Autor des gleichnamigen Erzählungsbandes, der ihn im Jahre 2000 bundesweit berühmt machte. Sicher haben sich die Exilpolen, die schon seit Mitte der neunziger Jahre die Literaturzeitschrift Kolano herausgeben, von der Eröffnung ihres Clubs eine ähnliche Popularität erhofft.

"Helmuty", "Impromptu" oder "Club der polnischen Versager": So lauten die Einträge im "Alphabet der polnischen Wunder", das am 1. Oktober im Suhrkamp Verlag erscheint. (Foto: Foto: dpa)

Das Kalkül, soweit vorhanden, scheint aufzugehen. Schon bald wird der Verein in die Talkshow von Alfred Biolek eingeladen; wie bei "Russendisko" schlägt der Bertelsmann-Konzern zu und veröffentlicht den zunächst noch im Versager-Verlag erschienenen Roman "Klub der polnischen Wurstmenschen". Das Buch floppt - zumindest in dieser Hinsicht bleibt der Verein seinem Namen treu. Der Club selbst entwickelt sich prächtig; im kleinen, maximal fünfzig Gäste fassenden Veranstaltungssaal ist fast jeden Abend Programm - in der Regel fördergelderfrei.

Damit unterscheidet sich der "Club der polnischen Versager" von der wenige hundert Meter entfernten Volksbühne, wo Scheitern und geniales Mißlingen mit dem Gestus einer neuen Staats- oder wenigstens Stadtreligion inszeniert werden. Während es in der Volksbühne immer noch um das Versagen insbesondere der sozialistischen Ideologie und einer künstlerischen Avantgarde geht, bemüht man sich im Club gar nicht mehr, über den herrschenden Kapitalismus hinauszudenken. Man konstatiert nur noch das Versagen innerhalb des Systems, um sich in aller Gemütlichkeit gegen etwaige Anfeindungen der Erfolgreichen zu wehren.

Nun stellt das ökonomisch schwächelnde Berlin, auch seine Mitte, zu weiten Teilen nichts anderes zur Schau als eben dieses renitente Versagen. Nur daß Versager sich sonst nicht Versager nennen.

Behinderte nennen sich Krüppel, Obdachlose nennen sich Penner, und sich dem Erwerbsleben verweigernde Jugendliche nennen sich Punks. Doch keiner dieser Begriffe inkludiert eine Vorgeschichte - daß der Krüppel einmal heil war, der Penner früher einmal ein Dach über dem Kopf hatte und der Punk aufs Gymnasium ging. Anders verhält es sich mit dem bekennenden Versager.

Er gesteht, daß er zumindest einmal versucht hat, den gesellschaftlichen Erfolgsmaßstäben zu genügen, und damals, als er sich als Vertreter von Staubsaugern und Wundermitteln oder als Anstreicher verdingte, durchaus noch Höheres im Sinn hatte. Deshalb hat der bekennende Versager auch aus der Sicht derer versagt, die sich dem Erfolgsdenken verweigern: Er ist ein Opportunist, den erst das persönliche Scheitern von den üblichen Karriere- und Glücksansprüchen hat Abschied nehmen lassen.

Tatsächlich, so heißt es aus den Reihen der "polnischen Versager", hatte man bei der Namensfindung das polnische Wort nieudacznik im Sinn, das in etwa "Unglücksrabe", "Pechvogel" oder "Trottel" bedeutet - ein Wort, mit dem man sich nahtlos in die Reihe schicksalsergebener Penner, Punks und Krüppel hätte einreihen können.

Der bekennende nieudacznik ist ein Genußmensch am Existenzminimum, ein Herzensclochard mit festem Wohnsitz. Aus altdeutscher und neupolnischer Sicht ist er der "faule (und zumeist alkoholisierte) Pole", im präkapitalistischen Polen war er jemand, der es verstand, sich auch unter den Verhältnissen der Okkupation und des real existierenden Sozialismus dem Savoir-vivre zu widmen.

Daß sich der Torstraßen-Verein jedoch nicht "Club der polnischen Trottel", sondern "Club der polnischen Versager" nennt, ist äußerst schlau. Denn sich selbst als "Versager" zu titulieren erfordert ein Maß an Selbstironie, das den Deutschen und ganz besonders den Berlinern in der Regel suspekt ist.

Ein internationales Vorurteil besagt, die Deutschen nähmen sich und die Welt zu ernst, darum fehle es ihnen an Humor. Doch der Fall liegt komplizierter. Das eine ist, auf einer Bananenschale auszurutschen und anschließend über sich selbst zu lachen. Das andere, immer wieder lachend von dem Unglück zu erzählen.

Es ist diese zur Schau gestellte, um Aufmerksamkeit buhlende Demut, die den Deutschen in ihrem Protestantismus, der sich zuletzt sogar den Glauben an Gott abgespart hat, so fremd bleibt. Indem sie sich ausgerechnet eines Begriffes bedienen, der im kapitalistischen Alltag wie eine Ausnüchterungszelle nach jeder kleineren Eskapade wartet, ist es den polnischen Versagern gelungen, eine fremde, längst vergessene Märchenwelt zum Klingen zu bringen.

Es hilft, daß viele Berliner zwar schon in Thailand, Indonesien oder Mexiko waren, aber nie im nur knapp hundert Kilometer entfernten Polen. Diese tradierte Ignoranz ermöglicht, daß hier, in der Torstraße 66, der "Pechvogel" oder "Versager" sich selbst zum Ritter schlägt und ihm das Glück zu guter Letzt doch noch hold ist.

Ingo Niermann

Helmuty Nach Helmut Kohl, dem Vater der deutschen Einheit, sind in mehreren polnischen Städten die alten Straßenbahnen benannt, die man in den neunziger Jahren billig aus Deutschland bezogen hatte. Es handelt sich um die Modelle Düwag T4 und GT6, Baujahr Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Sie verkehren unter anderem in Posen, Stettin, Landsberg an der Warthe und in Krakau. In Krakau fahren außer den Wagen aus Nürnberg auch solche aus Wien, die den ersteren sehr ähnlich sehen und deshalb zu den Helmuts gerechnet werden, obwohl es dafür keine außenpolitischen Gründe gibt. Der Vorname Helmut wird ähnlich wie Fritz (Fryc) als herablassende Bezeichnung für den Deutschen überhaupt benutzt, ist aber nicht so verächtlich wie Szkop oder Szwab.

Pawel Dunin-Wasowicz

Impromptu Die nicht sehr häufige musikalische Gattung des Impromptus wird in der Regel mit Fryderyk Chopin verbunden und dabei - wahlweise - auf einen vermeintlich "polnischen" Charakter seiner Musik oder, im Gegenteil, auf das vermeintlich "Unpolnische" seiner Musik gemünzt. Jenes ist die klassische Projektion der Westeuropäer auf einen ländlich unzivilisierten Osten, dieses eine kulturelle Komponente polnischer Nationalismen, die allerdings in bezug auf Chopin im Maße seines Ruhms und vor allem Nachruhms verblaßten.

Da Chopin aber auch im eigenen Selbstverständnis wie so viele Komponisten in dieser Zeit das Wiederbeleben lokaler Folkloren im nationalen Erbe sehr ernst nahm, aber anders als andere nationalistische Komponisten dies mit einer eigenen, oft gar nicht bodenständigen, sondern bis an die Grenze des Fragilen zarten Handschrift mischte, blieb die Spannung zwischen denen, die in Offenheit und Zartheit einen Bruch mit dem anderen Projekt sahen, und denen, die gerade darin etwas Polnisches erkennen konnten.

Das Impromptu ist keine Improvisation, doch nutzt es die Vorstellung, es könnte aus einer Improvisation heraus entstanden sein, als Begründung seiner musikalischen Form. Die Gestik des Improvisierens verbindet sich, vor allem in Chopins posthum erschienener "Fantasie Impromptu", mit einem irgendwie regellosen und improvisierten Leben, das man einerseits in der Biographie des Komponisten erkennen, andererseits, im ausgehenden 19. Jahrhundert, mit dem polnischen Nationalcharakter verbunden wissen will.

Ein anderer musikalischer Terminus, der gemeinhin mit Chopin assoziiert wird, ist das tempo rubato. Die unfestgelegten, gefühlsmäßig zu bestimmenden Tempi werden schon mal patriotisch als Widerspiegelung polnischen Freiheitswillens, dann wieder als Feminisierung der Musik und als unzulässige Weichheit gedeutet.

So wie André Gide in Chopin einen Komponisten sah, der "ein Beispiel (...) von Rassenkreuzung" darstelle, weil er mehrere kulturelle Formate verbinde, stellen ihn seine Zeitgenossen abwechselnd als "Titan" und als "Schwächling" dar: Beide Bewertungen berufen sich dabei auf dieselben von der Musik relativ abstrahierten Mythen: das freie Tempo und die freie Improvisation.

Beide sind aber, und das wußte nun eine dritte Rezeption, keineswegs Durchbrüche der nationalen Natur, noch Embleme des Versagens vor ihr seitens eines lungenkranken Schwächlings, sondern ästhetische Strategien, die sehr präzise simulieren und als erstrebenswert erscheinen lassen, was man Chopin als persönliche Eigenschaft zugeschrieben hat, ob in einem freundlichen oder unfreundlichen Sinne.

Das unordentliche Leben, die Krankheit und die Ungebundenheit taugten zu den üblichen, in jener Zeit sich vervielfältigenden Legenden vom Leben der Künstler und wurden noch verstärkt von der spezifischen Herkunft dieses Künstlers. Trotzdem konnte diese dritte Lesart vorschlagen, den Gegensatz zwischen romantischem Lokal- und Nationalpathos und "feminin" stilisierter Unbestimmtheit über deren Gemeinsames, die Sehnsucht, das Unerreichbare, auch nicht ganz unkitschig und kunstreligiös zu versöhnen.

Gottfried Benn, dem das Hinfällige ein Ehrenzeichen angemessen artistischer Dekadenz ist, hat ihm dazu in seinem Chopin-Gedicht fast eine Ästhetik des Kleinen und Unvollendeten geschrieben, wie sie Deleuze später für Kafka vorschlagen sollte. Der Gender-Aktivist und elektronische Musiker Terre Thaemlitz hat die über alle Maßen zackigen und genauen Elektronik-Pop-Klassiker von Kraftwerk von einem mit Rubato-Programm gesteuerten Piano nachspielen lassen. Die Provokation des Unfestgelegten lebt fort.

Diedrich Diederichsen

Polenwitz Wenn man als Pole im Ausland lebt, wird man mit einer Menge Polenwitze bedacht. Es vergeht keine Woche, in der man nicht in folgenden Dialog verwickelt wird: "Wissen Sie, ich habe einen Super-Polenwitz gehört. Wollen Sie ihn hören?" "Nein, danke." "Ja, warum denn nicht? Der ist wirklich lustig." "Weil ich ihn sicher schon kenne. Ich komme ja aus Polen." "Was, wirklich? Kein Witz?" "Nein, kein Witz." Ende der Unterhaltung.

Wie die meisten Witze unterliegt auch der Polenwitz einem interessanten Wandel. In den achtziger Jahren, als die Solidarnosc-Bewegung in der ganzen Welt bekannt wurde, kursierten Witze über die schlauen Polen, die es immer wieder verstanden, den Kommunisten eins auszuwischen. In den neunziger Jahren, als viele Polen in den Westen kamen und eine intensive, wenn auch verhängnisvolle Liebe zu deutschen Autos entwickelten, folgte eine Reihe von Witzen wie: "Woher wissen wir, daß die Polen im Weltall sind? Weil der große Wagen weg ist."

Zehn Jahre später folgten die Witze über die Arbeitsmoral der Polen: "Wissen Sie, warum drei Polen nötig sind, um eine Glühbirne einzuschrauben? Weil einer die Birne in der Hand hält, während die anderen zwei ihn drehen."

Nach dem Millennium begann Europa, sich endlich einem bis dato unbekannten Mysterium zuzuwenden - der slawischen Seele. Diese wurde folgendermaßen charakterisiert: "Der Teufel sperrt einen Deutschen, einen Russen und einen Polen in die Hölle. Er gibt jedem von ihnen zwei unzerstörbare Kugeln und sagt: ,Wenn ihr es über Nacht schafft, damit etwas anzustellen, was mich verblüfft, lasse ich euch frei.'

Am nächsten Morgen kommt der Teufel wieder und stellt den Russen zur Rede: Dem Russen ist es gelungen, die Kugel mit Gedankenkraft zu bewegen. Der Teufel nickt beifällig und geht zu dem Deutschen. Der wiederum hat eine Kugel auf die andere gestellt, was jedem physikalischen Gesetz widerspricht. Dann kommt der Teufel zum Polen und sagt: ,Die anderen haben sich angestrengt und jetzt zeig du, was du gemacht hast.' Der Pole antwortet ganz betreten: ,Entschuldigen Sie, Maestro, aber die erste Kugel ist kaputt, die andere hab ich irgendwo verloren."'

Daß Polen selbst über einen ausgeprägten Sinn für Humor verfügen, ist im Westen weitgehend unbekannt. Aber gerade mit Humor läßt sich die slawische Seele im Sturm erobern. Dieses Kunststück ist ausgerechnet einem deutschen Theologiestudenten namens Steffen Möller gelungen. Möller kam vor sieben Jahren nach Polen. Nach einigen abenteuerlichen Jobs fand er den Weg ins Kabarett und schließlich ins Fernsehen.

Heute ist er nicht nur der beliebteste deutsche Schauspieler, sondern der beliebteste Schauspieler Polens überhaupt. Er moderiert einige der bekanntesten Talkshows Polens, darunter das Pendant des deutschen "Wetten, daß...", und spielt in einer Fernsehserie mit, die zehn Millionen Zuschauer vor den Bildschirm lockt.

Mit seinem grotesken Akzent beweist er den Polen, daß Deutsche nicht nur Kreuzritter, mürrische Erbsenzähler oder ordnungsbesessene Maschinen sind, sondern auch verblüffend slawische Eigenschaften an den Tag legen können - wie etwa Selbstironie, die Möller inzwischen zur zweiten Natur geworden ist.

Eines Tages begegnete Steffen Möller auf einer Straße in Warschau einem Bauarbeiter, der sich vor Begeisterung über die Begegnung mit dem Star nicht halten konnte: "Herr Möller, Sie sind mein absoluter Liebling im Fernsehen", sprach der Bauarbeiter ihn sofort an.

"Wirklich?" freute sich Möller. "Welche Sendung gefiel Ihnen denn besonders?" "Keine Ahnung. Ich habe noch nie was von Ihnen gesehen." "Nanu? Wie kann ich da Ihr Liebling sein?" "Weil immer, wenn Ihr Programm läuft, meine Frau zu mir sagt: Ich will mir in aller Ruhe Möller anschauen. Geh in die Kneipe!"

Radek Knapp

Unsere Beiträge sind ein Ausschnitt aus dem Buch "Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch. Herausgegeben von Stefanie Peter. Illustriert von Maciej Sienczyk. Übersetzt von Esther Kinsky und Olaf Kühl (Beiträge von P. Dunin-Wasowicz)". © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007. Eine Publikation in Zusammenarbeit mit Büro Kopernikus - ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes. Erscheinungstermin ist der 1. Oktober.

© SZ am Wochenende vom 15./16.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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