Arno Kompatscher, Jahrgang 1971, amtiert seit 2014 als Südtiroler Landeshauptmann. In seinem Kabinett hat der Rechtswissenschaftler unter anderem auch die Ressorts Finanzen, Wirtschaft und Außenbeziehungen übernommen. Das folgende Gespräch findet in Kompatschers Heimatort Völs statt, der sich unterhalb des imposanten Schlernmassivs befindet.
SZ: Herr Landeshauptmann, Ihre Südtiroler Volkspartei wirkt wie eine Zwillingsschwester der CSU: christlich-konservativ und seit Jahrzehnten an der Macht. Aber es gibt einen Unterschied. Sie sind betont proeuropäisch und schimpfen nicht immer wieder auf Brüssel wie die CSU. Was läuft hier anders?
Arno Kompatscher: Für uns war Europa immer Chance und Hoffnung. Europa bedeutet für Südtirol, dass die einst zu Unrecht entstandene Grenze am Brenner offen ist und unsere weitgehende Autonomie abgesichert ist. Und Europa bedeutet Frieden und die Grundlage für unseren Wohlstand.
Warum hat Europa bei vielen Europäern einen so schlechten Ruf?
Die wahren Ursachen liegen nicht in der Flüchtlingskrise. Überall in der EU haben es sich die Politiker in den Hauptstädten, aber auch auf regionaler Ebene einfach gemacht: Brüssel und Straßburg wurden für alles Negative verantwortlich gemacht. Die Schuld wurde immer auf die EU geschoben. Das rächt sich jetzt ganz enorm.
Haben also die Politiker Europa zum Buhmann gemacht?
Nicht alle, aber wenige waren es auch nicht. Das geht schon seit Jahrzehnten so, auch bei Ihnen in Deutschland. Da wurden die Legenden von der kostspieligen wie unnützen EU-Bürokratie in die Welt gesetzt. Man hat mit Geschichten über Gurkenkrümmungen und Ähnlichem Europa lächerlich gemacht. In Wirklichkeit haben die allermeisten europäischen Staaten selbst hausgemachte Probleme mit der Bürokratie.
Im Vereinigten Königreich ist die EU besonders unpopulär. Die Briten könnten nun für einen EU-Austritt stimmen.
Was ich natürlich nicht hoffe. Aber auch ein Brexit darf nicht das Ende der EU bedeuten. Europa darf nicht in Kleinstaaterei zurückfallen. Die Integration muss weitergehen.
Wie soll das gehen angesichts der vielschichtigen Krisen?
Vielleicht sollten wir noch einmal ernsthaft über Kerneuropa nachdenken. Mir wäre eine kleinere Gruppe fortschrittswilliger und fortschrittsfähiger Länder lieber als eine große EU, die ständig um Handlungsfähigkeit ringt.
Wie würde sich eine Renationalisierung Europas auf Südtirol auswirken?
Das hätte für uns drastische Folgen. Wir sind ja ein kleines Europa in Europa, mehrsprachig und eine kulturelle Brücke zwischen Norden und Süden. In den letzten Jahrzehnten hatten wir immer wieder Fortschritte. Wir arbeiten eng mit dem Bundesland Tirol zusammen. Schengen ist ein Meilenstein. Der Brenner ohne Schlagbaum, das ist für uns emotional immens wichtig. Das darf nicht gefährdet werden. Europa schützt unsere Freiheit.
Rechtsgerichtete Südtiroler verlangen das Modell eines Freistaats oder den Anschluss an Österreich. Warum lehnen Sie solche Vorschläge ab?
Der Nationalismus des 20 Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen ist die Ursache für unsere Situation. Die Südtirol-Frage nationalstaatlich beantworten zu wollen, bringt nur neue Konflikte und gefährdet all das, was wir erreicht haben. Mit der Europa-Region Tirol-Südtirol-Trentino haben wir die Chance auf eine Art von Wiedervereinigung der historischen Grafschaft Tirol auf europäischem Wege.
Österreichs Fast-Präsident Norbert Hofer fordert Selbstbestimmung für Südtirol. Was sagen Sie dazu?
Hofer scheint weder völkerrechtlich noch historisch besonders bewandert zu sein. Wir Südtiroler haben das Selbstbestimmungsrecht und zwar im Sinne der UN-Charta und des Völkerrechtes. Das bedeutet aber nicht, dass jemand eine Unterschriftenaktion initiiert und dann seinen eigenen Staat gründet oder Grenzen verschiebt. Mit solchen Aussagen qualifiziert sich Hofer nicht gerade für ein höheres Amt.
Hofer will Südtirol zu Österreich holen. Was spricht denn dagegen?
Die Stellung, die sich Südtirol in den letzten Jahrzehnten verschafft hat. Es ist verblüffend, dass Hofer offenbar nicht weiß, dass unsere Autonomie auf einem völkerrechtlichen Vertrag basiert: dem 1946 zwischen Österreich und Italien geschlossenen Gruber-De-Gasperi-Abkommen. Wenn jetzt ein österreichischer Politiker diesen Vertrag einseitig aufkündigen will, ohne eine realistische Alternative zu haben, setzt er unsere Zukunft aufs Spiel.
Vor ein paar Jahrzehnten hat auch Ihre Südtiroler Volkspartei die Rückkehr nach Österreich verlangt.
Diesen Wunsch muss man auch im zeitlichen Kontext betrachten. Die deutschsprachigen Südtiroler hatten damals berechtigte Angst um ihre Identität angesichts der Entwicklung seit 1919. Es gibt auch heute Gruppierungen, die sich einen eigenen Staat oder eine Wiedervereinigung mit Österreich wünschen. Allerdings wäre das im geltenden Rechtssystem nur mit der Zustimmung Italiens möglich, was aus heutiger Sicht unrealistisch ist.
Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde Südtirol vom Rest Tirols abgetrennt und Italien als Kriegsbeute zugeschlagen.
Das war historisches Unrecht, aber noch schlimmer war für die Südtiroler die anschließende Unterdrückung. Rom startete eine Italienisierungpolitik, die unter der Mussolini-Diktatur besonders rücksichtlos war und auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch fortgeführt wurde. Erst ab 1972 ist die heutige Autonomie entwickelt worden. Und die wollen wir Südtiroler unbedingt behalten und weiterentwickeln. Die herausragenden Sonderrechte, die wir heute genießen, finden weltweit Beachtung. Die Südtirol-Autonomie gilt als Modellfall dafür, wie man ethnische Konflikte friedlich löst.
Jetzt klingen Sie sehr zufrieden.
Das können wir Südtiroler grundsätzlich auch sein, solange unsere Autonomie nicht in Frage gestellt wird. Wir behalten 90 Prozent unseres Steueraufkommens. Das Bundesland Tirol hat den kleineren Haushalt als Südtirol, obwohl es mehr Einwohner hat. Wir haben 3,8 Prozent Arbeitslosigkeit, Tendenz sinkend, also eigentlich Vollbeschäftigung. Südtirol blüht, ökonomisch und kulturell. Selbstverständlich stehen auch wir vor großen Herausforderungen wie dem demografischen Wandel, der Migration, der Digitalisierung oder dem Klimawandel. Aber unsere Autonomie gibt uns die Möglichkeit zu gestalten.
Lassen Sie uns über ein Thema sprechen, das in Ihrer Heimat lange tabu war. Hitler und Mussolini haben 1939 die Südtiroler vor die Wahl gestellt, entweder in den deutschen Einflussbereich zu ziehen ...
... oder zu bleiben und die deutsche Sprache und Südtiroler Identität aufzugeben.
So ist es. Mehr als 85 Prozent der Südtiroler haben dafür optiert, die Heimat zu verlassen.
Es war ein teuflischer Deal der beiden Diktatoren, der viele Wunden geschlagen hat. Was Hitler und Mussolini da ausgeheckt haben, hat Familien und Freundschaften zerrissen. Der soziale Druck war immens.
Für welche Seite haben sich Ihre Vorfahren entschieden?
Meine Familie hat optiert, aber niemand ist letztlich ausgewandert. Väterlicherseits waren die Großeltern arme Quartierleute, das bedeutet: Sie besaßen kein eigenes Land oder ein Haus - für die damalige bäuerliche Gesellschaft fast unvorstellbar. Die hatten also nicht so viel zu verlieren wie andere. Meine Großmutter war auch im Bund Deutscher Mädel, der nur Optanten offenstand. Nach 20 Jahren der Unterdrückung war es dort erlaubt, öffentlich wieder auf Deutsch zu singen. Viele Südtiroler ließen sich damals von der Propaganda einwickeln. Sie verspürten einfach eine große Erleichterung, endlich wieder offen deutsch sprechen zu können und blendeten den Rest aus.
Klingt ziemlich naiv.
Von der heutigen Warte gesehen mag das so sein. Aber im damaligen Kontext stellt sich das anders dar. Die Südtiroler wurden Opfer zweier Diktatoren. Natürlich gab es auch Leute, die auf der Täterseite mitgemacht haben. Es gab die Informierten, die von Beginn an wussten, wohin das führt mit der Aussiedelei. Schließlich mussten die von den Nazis versprochenen Bauernhöfe, Weinberge und Felder im Osten ja vorher irgendjemandem weggenommen werden.
Warum hat man sich so lange schwer getan, über diese Causa zu sprechen?
Schauen Sie, nach dem Zweiten Weltkrieg galt für die Südtiroler: Wir müssen zusammenhalten und Einigkeit demonstrieren, damit wir möglichst viel erreichen in Sachen Autonomie. In den achtziger Jahren begann dann die Aufarbeitung. Aber es ist ein schwieriges Thema, weil es eben tiefe Wunden geschlagen hat.
Der Begriff "Identität" ist in Südtirol immens wichtig. Was verbinden Sie persönlich damit?
Als deutschsprachiger Südtiroler bin ich ein Angehöriger der österreichischen Minderheit. Die Sprache und die Tiroler Kultur sind wichtige Elemente meiner Sozialisation. Aber eine Sozialisation schließt doch andere nicht aus. Ich bin auch Jazzfan, was mich mit vielen Menschen aus aller Welt verbindet.
Gehört zur Südtiroler Identität zwingend, deutschsprachig zu sein?
Heute nicht mehr ausschließlich. Lange waren die hiesigen Italienischsprachigen sehr nationalistisch eingestellt, das war für sie identitätsstiftend. Sie hatten oft auch Angst davor, von den Deutschsprachigen dominiert zu werden.
Was hat sich seitdem verändert?
Die Haltung von vielen Italienischsprachigen. Seit zwei Jahrzehnten beobachten wir einen deutlichen Wandel. Inzwischen haben viele verstanden, dass die Volksgruppenpolitik im Sinne des Autonomiestatuts auch den Italienischsprachigen zugutekommt. Der konsequente Schutz von Sprache und Kultur ermöglicht es aufeinander zuzugehen und den Mehrwert der Vielfalt zu nutzen. Immer mehr von ihnen identifizieren sich sehr stark mit der Autonomie: Viele sehen sich als italienischsprachige Südtiroler. Das ist ja auch gut so. Heimat soll niemanden ausschließen. Man darf über den Heimatbegriff keine Käseglocke stülpen. Für mich ist Heimat ein Haltegriff in der globalisierten Welt.