Süddeutsche Zeitung

Interview am Morgen: Südsudan:"Die Widerstandskraft der Bevölkerung bröckelt"

1,4 Millionen Kinder sind im krisengeschüttelten Südsudan von Unterernährung bedroht. Eric Alain Ategbo von der Hilfsorganisation Unicef kämpft für ihren Schutz, doch die Corona-Pandemie erschwert seine Arbeit.

Interview von Sara Maria Behbehani

Eric Alain Ategbo, geboren im westafrikanischen Benin, arbeitet seit mehr als 18 Jahren für Unicef, stets an verschiedenen Orten der Welt. Heute ist der 60-Jährige im Südsudan Ernährungsexperte des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen und arbeitet daran, Kinder vor Mangelernährung zu schützen.

SZ: Mit der Corona-Krise hat auch der Hunger weltweit zugenommen. Wie ist die Situation im Südsudan?

Eric Alain Ategbo: Nach aktuellen Schätzungen sprechen wir von 8,3 Millionen Menschen, die 2021 auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden - seit der Unabhängigkeit 2011 ist das der Höchststand. Wir gehen davon aus, dass 1,4 Millionen Kinder unterernährt sein werden, mehr als 300 000 von ihnen schwer. Der Südsudan hat schon viel Schreckliches erlebt. Aber die Kinder im Südsudan haben dieselben Rechte wie die Kinder in anderen Teilen der Welt, und wir müssen dafür sorgen, dass sie gesund aufwachsen können.

Was hat die Hungerkrise im Südsudan verursacht?

Dafür gibt es viele Gründe. Mehrere Jahre lang herrschte Bürgerkrieg. Es kommt immer wieder zu Gewalt zwischen Bevölkerungsgruppen. Und die Menschen haben Jahr für Jahr mit Überschwemmungen zu kämpfen. Weil sie vertrieben werden, können die Menschen ihre Felder nicht mehr bestellen. Deswegen sind viele auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen.

Und die Corona-Krise hat die Lage noch verschärft?

Die Corona-Pandemie ist eine große Herausforderung für Menschen überall auf der Welt, auch im Südsudan. Sie verschärft die Not der Menschen, denn sie sind von mehreren Katastrophen gleichzeitig betroffen: von Gewalt, Überschwemmungen, der Covid-19-Pandemie. Es gibt keine Pause. Es ist sehr schwer, sich von diesen vielen Krisen zu erholen, und die Widerstandskraft der Bevölkerung bröckelt.

Wie hat die Pandemie die Arbeit Ihrer Hilfsorganisation verändert?

Diese Pandemie trifft Kinder in all ihren Lebensbereichen und auch unsere Arbeitsweise. Um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, wurde unsere Mobilität eingeschränkt. Vor der Corona-Krise haben wir die Kinder gewogen und gemessen, um Mangelernährung zu diagnostizieren. Da sind schon mal mehr als 100 Menschen zusammengekommen. Jetzt haben wir stattdessen den Müttern beigebracht, wie sie die Entwicklung und den Ernährungsstatus ihres Kindes selbst prüfen können - zu Hause. Das funktioniert extrem gut.

Der Südsudan hat mit vielen Krisen zu kämpfen: Krieg, Überflutung, Heuschreckenplage. Ändert das die Perspektive auf die Pandemie, wenn sie gar nicht die größte Bedrohung für die Menschen darstellt?

Wir wählen nicht zwischen den einzelnen Herausforderungen. Diesen Luxus haben wir nicht. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder und Mütter vor lebensbedrohlichen Situationen geschützt werden, und angemessene Maßnahmen finden. Das Recht auf Leben ist umfassend und nicht teilbar.

Es wird viel über Long-Covid berichtet, auch bei Kindern. Welche Langzeitschäden kann Hunger bei Kindern anrichten?

Die Entwicklung der Gehirnzellen beginnt sehr früh im Leben. Ist eine werdende Mutter unterernährt, kommt es zu Entwicklungsverzögerungen bei den Kindern. Auch wenn das Kind in den ersten zwei Lebensjahren unterernährt ist, kann dies die Entwicklung nachhaltig negativ beeinflussen und auch zu höherer Sterblichkeit und Anfälligkeit für Krankheiten führen. Umso wichtiger ist es, dass wir Kinder vor Mangelernährung bewahren und dafür sorgen, dass mangelernährte Kinder schnell behandelt werden, damit sich dies nicht langfristig auf ihre Entwicklung auswirkt.

Sogar die Wirtschaften entwickelter Staaten haben mit der Corona-Krise zu kämpfen. Führt das dazu, dass derzeit jedes Land so mit sich beschäftigt ist, dass die Menschen in Afrika vergessen werden?

Ich glaube an die Globalisierung und daran, dass wir eine Welt sind. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Auch vor der Pandemie war ich nicht naiv genug zu glauben, dass andere Länder keine Probleme hätten. Wenn wir die Welt als einen globalen Ort begreifen, dann wird auch die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Herangehensweise an ihre Probleme deutlich. Wir dürfen die Kinder im Südsudan nicht vergessen.

Was muss getan werden, um in den kommenden Monaten eine noch größere humanitäre Krise im Südsudan zu verhindern?

In drei oder vier Wochen beginnt die Regenzeit. Wenn Gebiete in den kommenden Monaten durch Hochwasser von der Außenwelt abgeschnitten sind, müssen Hilfsgüter wie Medikamente und Zusatznahrung zur Behandlung von Mangelernährung dort schon bereitstehen. Dafür sorgen wir.

In Deutschland hoffen die Menschen auf Impfstoffe als Ausweg aus der Krise. Wie sieht die Versorgung mit Impfstoffen im Südsudan aus?

Durch Covax und mit Hilfe von Unicef können hier seit Anfang April erste Impfstoffe verteilt werden. Auf die Impfung setzen auch wir unsere Hoffnung für eine Rückkehr zur Normalität.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5260396
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.