Am Freitag ist das Verfassungsgericht in Seoul ganz hinter einer Mauer aus Polizeibussen verschwunden. In den Tagen zuvor gab es vor dem Bürgersteig gegenüber der Einfahrt noch eine Lücke in der Wagenburg. Die Fans des rechten Präsidenten Yoon Suk-yeol demonstrierten dort immer gegen das laufende Amtsenthebungsverfahren. Jetzt geht das nicht mehr. Das ist wohl die Folge eines Vorfalls vom Dienstag. Da warf ein Demonstrant der Abgeordneten Back Hye-ryun von der liberalen Oppositionspartei DP ein rohes Ei ins Gesicht, als diese sich vor dem Gerichtsgebäude in einer Rede für Yoons Amtsenthebung aussprach.
„Der soziale Konflikt ist auf gefährliche Weise ernst geworden, weil Präsident Yoon die verfassungsrechtliche Ordnung mit Füßen getreten hat“, schrieb Back Hye-ryun danach auf Facebook. Jetzt haben Passanten keinen freien Blick mehr auf das Gericht. Die Yoon-Fans sind sauer. Vor der Sperrzone gehen ihre Demonstrationen weiter, um irgendwie das Urteil zu beeinflussen.
Das Urteil. Darf der suspendierte Präsident Yoon Suk-yeol nach seiner Kriegsrechtserklärung vom 3. Dezember zurück ins Amt, oder gibt es eine Neuwahl? Die Entscheidung hätte längst fallen sollen. In Südkorea gab es seit dem Ende der Diktatur 1987 schon zwei andere Amtsenthebungsverfahren gegen höchste Leute im Staat. 2004 durfte Präsident Roh Moo-hyun 14 Tage nach der letzten Anhörung zurück ins Amt, weil das Verfassungsgericht seine Parteinahme für die liberale Uri-Partei zwar rechtswidrig, aber nicht schwerwiegend fand. 2017 dauerte es elf Tage, bis das Gericht die Amtsenthebung von Präsidentin Park Geun-hye wegen Amtsmissbrauchs bestätigte; Park hatte ihre Vertraute Choi Soon-sil in Staatsangelegenheiten eingreifen lassen.
Rechtsextreme hetzen in sozialen Medien gegen die Polizei
Im Fall Yoon war die letzte Anhörung vor knapp einem Monat, am 25. Februar. Viele hatten schon vergangenen Freitag mit dem Urteil gerechnet. Jetzt ist wieder Freitag. Das Warten geht weiter. Die Stimmung ist angespannt. Das zeigt nicht nur der Ei-Wurf auf die Abgeordnete Back. Liberale Parlamentarier sind in den Hungerstreik getreten. DP-Chef Lee Jae-myung trug am Mittwoch bei einer Veranstaltung am Gwanghwamun-Platz eine kugelsichere Weste gegen ein mögliches Attentat.
Und die Yoon-Anhänger richten ihren Zorn zunehmend gegen die Polizei, weil die ihre Demonstrationsfreiheit einschränke. Sie schimpfen auf die Beamten ein, wenn diese unangemeldete Demonstrationen auflösen oder die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen. Die Zeitung Korea Herald berichtete am Mittwoch, dass Rechtsextreme auf sozialen Medien falsche Gerüchte über Polizisten verbreiten, an deren Frisur man erkenne, dass sie keine Koreaner seien. Solche Fake News unterstützen die Verschwörungserzählung, dass die Polizei von chinesischen Agenten unterwandert sei.
Yoon Suk-yeol löst nicht nur eine Staatskrise aus. Er befeuert eine Massenbewegung des Irrglaubens
Viele Seoul-Reisende werden Zeugen dieses Kampfes, weil er genau dort stattfindet, wo Südkoreas Hauptstadt besonders sehenswert ist. Die Yoon-Gegner haben nahe dem Gyeongbokgung-Palast ein Zeltdorf aufgebaut. Während sie gegen Yoon protestieren, flanieren Touristinnen in gemieteten Hanbok-Kleidern vorbei.
Das Verfassungsgericht ist nicht weit, gelegen in einem Viertel mit historischen Holzhäusern, Souvenirshops, Cafés. Hier inszenieren die Rechten ihre Überzeugung, dass Yoon Südkoreas Demokratie mit seiner Kriegsrechtserklärung aus einer kommunistischen Falle mit Wahlbetrug und chinesisch-nordkoreanischer Unterwanderung befreien musste. Jeden Tag kommen sie hierher, halten Plakate hoch, skandieren Parolen, schwenken Fahnen.

Am Mittwoch steht eine Frau mittleren Alters in der Menge und verteilt Flugblätter. Darauf steht auf Englisch, „prochinesische Politiker“ hätten „eine riesige Oppositionspartei durch chinesische Wahleinmischung geformt“ und wollten nun den Präsidenten des Amtes erheben „in einem Versuch, ein sozialistisches und kommunistisches System zu etablieren“. Blanker Unsinn. Sie habe das geschrieben, sagt die Frau. „Das ist wahr.“ Wer sie sei? „Eine Koreanerin.“ Rechtsextreme Youtuber und die Ansprachen des Präsidenten haben sie geprägt. Sie schreibt etwas auf das Display ihres Smartphones. Die Übersetzungsmaschine spuckt die Sätze aus: „Alle Medien sind kontrolliert von China und voll mit Fake News. Die Wahrheit ist nur auf Youtube.“ Widerrede zwecklos. Zum Abschied schüttelt die Frau dem Reporter höflich die Hand. Ihr Blick sagt: Der fremde Mann hat keine Ahnung.
Bei solchen Begegnungen wird klar: Yoon Suk-yeol hat Südkorea mit seiner Kriegsrechtserklärung nicht nur in eine Staatskrise gestürzt. Er hat eine Massenbewegung des Irrglaubens befeuert. Seine Fans scheinen ihre Ängste über Wahrheit und Gesetz zu stellen. Sie haben ihre eigene Gedankenwelt entwickelt, in der sie sich sicherer fühlen.
Aber Wahrheit und Gesetz gibt es natürlich trotzdem. Der Text der südkoreanischen Verfassung ist ziemlich klar. Der Präsident wollte am 3. Dezember gegen das Parlament vorgehen, das sich aus seiner Sicht zum „Monster“ entwickelt habe, weil die DP darin die klare Mehrheit hat. Aber die Verfassung erlaubt das Kriegsrecht nur „in Kriegszeiten, bei bewaffneten Konflikten oder ähnlichen nationalen Notfällen“. Viele Yoon-Gegner sind beunruhigt, weil die acht Verfassungsrichterinnen und -richter so lange brauchen mit ihrem Urteil. Sind sie sich nicht einig? Yun Bok-nam, Präsident der Non-Profit-Organisation „Lawyers for a Democratic Society“, findet die Verzögerung hingegen „verständlich“, unter anderem weil Yoons Anwälte den Prozess mit Fragen zum Verfahren verzögerten. Und weil das Verfassungsgericht nicht nur das Verfahren gegen Yoon zu bearbeiten habe. Die DP hat mit ihrer Mehrheit schon vielen Amtsträgern das Misstrauen ausgesprochen. Am Montag zum Beispiel ergeht das Urteil, ob Interimspräsident Han Duck-soo auf seinen Posten zurückkehren darf.
Yun Bok-nam ist sicher: Früher oder später verliert Yoon sein Amt. Und dann? Wie werden seine Fans reagieren? Nach dem Urteil gegen die konservative Park Geun-hye 2017 gab es Ausschreitungen. Vier Menschen starben. Als ein Seouler Gericht im Januar den Haftbefehl gegen Yoon verlängerte, stürmten Yoon-Anhänger das Gebäude. Der Staat ist gewarnt. Am Tag der Entscheidung sollen in Seoul 14 000 Polizisten die Stadt sichern. Das Verfassungsgericht wird weiträumig abgesperrt, der nahe U-Bahnhof geschlossen. Südkorea muss sich schützen gegen die Geister, die Yoon Suk-yeol stark gemacht hat.