Süddeutsche Zeitung

Südkorea:Teure Gratistickets

Senioren fahren in Südkorea kostenlos mit der U-Bahn - noch. Die alternde Gesellschaft belastet zunehmend die öffentlichen Kassen.

Von Thomas Hahn, Seoul

Kim Chong-ja aus Seoul ist eine U-Bahn-Fahrerin, die sich ihre Fahrten leisten kann. Auf diese Feststellung legt die 79-Jährige Wert, auch wenn sie, eine Texterfasserin im Ruhestand, natürlich den Service nutzt, der ihr nach dem Gesetz zusteht. In Südkorea ist U-Bahn-Fahren für Menschen ab 65 kostenlos. Kim Chong-ja sitzt also in einem Zug der Linie drei auf ihrem Weg Richtung Seocho, wo sie an diesem Sonntag zu Mittag essen will, und spart dabei die 1650 Won, umgerechnet 1,22 Euro, die der Trip von ihrer Heimatstation Nowon aus eigentlich kostet. Sie kann verstehen, dass die Politik darüber streitet. "Wegen der schwachen Wirtschaft." Andererseits haben es ja nicht alle so gut wie sie, die neben der Rente Unterstützung von ihren reichen Kindern bekommt. "Für Leute, die unter ärmlichen Bedingungen leben, sind die Freifahrten gut", sagt Kim Chong-ja.

Mobilitätsarmut ist ein Phänomen, das Menschen auf der ganzen Welt krank macht. Wer wenig Geld hat, kann nicht nach Belieben Fahrkarten kaufen und versauert zu Hause. So gesehen ist Südkorea mit seiner seniorenfreundlichen U-Bahn-Politik ein Vorbild bei der Bekämpfung von Depressionen und mangelnder Bewegung im Alter. Sozialverbände verteidigen entschlossen die Freitickets für Rentnerinnen und Rentner. Sie gehören ja auch schon sehr lange dazu zum Nahverkehr der Nation. Der tyrannische Präsident Chun Doo-hwan führte sie 1984 ein.

Damals waren die Voraussetzungen in Südkorea allerdings noch anders. Es gab nicht viele U-Bahnen. Lediglich die Hauptstadt Seoul hatte ein Netz - und auch nur mit zwei Linien, nicht mit 23 wie heute. Vor allem gab es nicht so viele Alte. Von den rund 40,4 Millionen Südkoreanerinnen und Südkoreanern waren damals nach Zahlen des koreanischen Statistikamtes nur 4,1 Prozent 65 oder älter. Heute zählt Südkorea mehr als 51,5 Millionen Menschen, 17,5 Prozent haben als Senioren das Anrecht auf Gratisfahrten. Tendenz steil ansteigend.

Wie das Rentensystem steht das Gratissenioren-Ticket für die unvermeidliche Pleite der überalterten Gesellschaft: viele Begünstigte, wenige Zahler. Seouls konservativer Bürgermeister Oh Se-hoon hat deshalb die Debatte darüber neu angeheizt. "Seoul Metro macht seit der Covid-19-Pandemie jährlich ein Minus von einer Billion Won (742 Millionen Euro). Die Freifahrten der Senioren machen davon etwa 30 Prozent aus", erklärte er. "Wenn Seoul Metro eine Privatfirma wäre, wäre sie längst bankrott." Fahrpreiserhöhungen allein helfen da nicht mehr. Oh will Hilfe von der Staatsregierung, immerhin seien die Gratistickets ja eine Idee des einstigen Präsidenten Chun gewesen. Aber das Finanzministerium erwidert, der U-Bahn-Betrieb sei Sache der Stadt.

Also steht wohl das Freiticket selbst auf der Kippe. Am Freitag schrieb Oh Se-hoon auf Facebook, er werde mit Nationalparlamentariern, Staatsregierung sowie Bürgergruppen über das Thema sprechen und dabei "für alle Möglichkeiten offen" sein. In Daegu gab Ohs Amtskollege Hong Joon-pyo bekannt, seine Verwaltung wolle die Altersgrenze für kostenlose Metro-Nutzung auf 70 Jahre anheben. Und die betroffene U-Bahnfahrerin Kim Chong-ja? "Ich bin für die Anhebung auf 70." Man nimmt ihr ab, dass sie das nicht nur sagt, weil sie selbst fast achtzig ist.

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