Südkorea:Land der Gräben

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Der Putschversuch des Präsidenten weckt alte Traumata:  37 Jahre nach Ende der Diktatur in Südkorea kämpfen Lee Boo-young und seine Nation wieder um die Freiheit. (Foto: Thomas Hahn)

Der Anschlag des Präsidenten Yoon auf Südkoreas Demokratie hat gezeigt, dass nicht alle im Land dieselben Lehren aus den Zeiten der Diktatur ziehen. Der  82 Jahre alte Lee Boo-young sieht trotzdem Grund zur Hoffnung, er war immer ein Freiheitskämpfer.

Von Thomas Hahn, Seoul

Lee Boo-young kann es nicht gut finden, dass die Zeiten in Südkorea wieder unruhig sind. Er, der Ex-Journalist und -Politiker, gehörte in den Siebziger- und Achtzigerjahren zu denen, die gegen die Herrschaft autoritärer Präsidenten kämpften. Als die Proteste der Regimegegner den Diktator Chun Doo-hwan 1987 endlich zu Reformen bewegten, saß Lee im Gefängnis wegen des Vorwurfs, er habe den demokratischen Aufstand vom 3. Mai 1986 in Incheon angeführt. Und in den Jahrzehnten danach war der nun 82 Jahre alte Lee Boo-young vor allem froh darüber, dass sein Land zwar nicht fehlerfrei, aber immerhin eine Demokratie geworden war.

Als der Präsident Yoon Suk-yeol am späten Abend des 3. Dezember plötzlich wegen der starken Opposition im Parlament das Kriegsrecht gegen „pronordkoreanische Kräfte“ ausrief, sah es für Lee kurz so aus, als könnte Südkorea zurückfallen in die schlechte alte Zeit. Aber dann nutzte das Parlament sein Recht, gegen das Kriegsrecht zu stimmen. Die Soldaten zogen sich zurück. Und eine Welle des Protests begann, die dem alten Freiheitskämpfer Lee das Herz wärmte. „Schauen Sie sich bitte die Demonstrationen der jungen Leute an“, sagt er, „sie zünden Kerzen an und diese bunten Lichter. Es ist wie ein Regenbogen. Sie sind optimistisch. Sie jubeln.“

Es sind seltsame, wechselhafte Wochen für Südkorea. Die Landsfrau Han Kang hat als erste Asiatin den Literatur-Nobelpreis bekommen für ihr Werk, das unter anderem die Wunden aus der Zeit der Diktatur beschreibt. Und kurz zuvor ereignete sich dieser verhinderte Palastputsch: Yoon versuchte, mit Truppen die Nationalversammlung auszuschalten, und schickte Soldaten zur Wahlkommission, weil er hinter dem klaren Sieg der liberalen Demokratischen Partei (DP) gegen seine konservative PPP bei der Parlamentswahl im April nordkoreanische Hacker vermutete.

Das politische Chaos kann noch dauern: Erst im Juni entscheidet das Verfassungsgericht, ob Yoon im Amt bleibt

Han Kang, die leise Erzählerin. Yoon Suk-yeol, der laute Machtmensch. „Das ist ein wirklich starker Widerspruch“, sagt Lee Boo-young. Aber er kann ihn erklären.

Südkorea steckt immer noch in der Staatskrise nach Yoons Putschversuch. Am vorvergangenen Samstag stimmte das Parlament im zweiten Anlauf für die Suspendierung Yoons. Das Verfassungsgericht muss bis Juni entscheiden, ob Yoon tatsächlich sein Amt verlassen muss. Ermittlungen laufen, Befragungen sind anberaumt. Aber Yoon macht nicht richtig mit. Den ersten beiden Vorladungen ist er nicht gefolgt. Er akzeptiert Gerichtsdokumente nicht. Und vergangene Woche widersprach Yoons Rechtsberater Seok Dong-hyeon ungerührt den Zeugenaussagen leitender Militär- und Polizei-Kräfte, wonach Yoon am 3. Dezember angeordnet habe, Politiker zu verhaften und aus dem Parlament zu zerren.

Demonstranten in der Hauptstadt Seoul haben eine Pappmachee-Figur Yoon Suk-yeols schon symbolisch hinter Gitter gebracht. (Foto: Ahn Young-joon/dpa)

Gleichzeitig ringen Interimspräsident Han Duck-soo und die DP-Fraktion um den richtigen Weg zur Besserung. Han musste entscheiden, ob er zwei DP-Gesetzentwürfe zu Sonderermittlungen durchwinkt oder per Veto abwehrt. Der eine Entwurf zielt auf Yoon ab wegen der Kriegsrechtserklärung, der zweite auf Yoons Frau Kim Keon-hee, die unter Korruptionsverdacht steht. Am Sonntag sagte DP-Fraktionschef Park Chan-dae, wenn Han den Gesetzentwürfen bis Heiligabend nicht zustimme, „werden wir ihn sofort zur Rechenschaft ziehen“. Han stimmte nicht zu. Jetzt droht die DP dem Interimspräsidenten mit einem Amtsenthebungsverfahren.

Lee Boo-young wünschte sich wohl auch mehr Ruhe im Ringen gegen das politische Chaos. Aber so einfach ist das nicht. Die politischen Lager sind zu unterschiedlich. Auf der einen Seite stehen die Konservativen, die so etwas wie die antikommunistische, streng proamerikanische Nachfolgebewegung der alten Machtcliquen sind. Und auf der anderen Seite die liberalen, eher USA-kritischen Freiheitskämpfer von einst, die kompromissbereiter sind, wenn es um die Annäherung an Nordkorea geht.

Fünf Mal ist der Freiheitskämpfer im Lauf des Lebens verhaftet worden, in der Diktatur sei das normal gewesen

Am Tag vor Yoons Suspendierung sitzt Lee Boo-young mit anderen alten Freiheitskämpfern in einem Zelt bei der Nationalversammlung in Seoul am Rande einer riesigen Anti-Yoon-Demonstration. Er hebt die Hand mit gespreizten Fingern. „Fünf Mal“ sei er schon verhaftet worden. „In der Diktatur von Park Chung-hee und Chun Doo-hwan war es ganz natürlich, verhaftet zu werden“, sagt er. Chun kam Ende 1979 durch einen Militärputsch an die Macht. Der frühere General Park, Präsident ab 1963, rief das Kriegsrecht im Oktober 1972 aus, um sich diktatorische Befugnisse zu verschaffen. Yoons Putschversuch weckte bei Lee Boo-young das Trauma aus dieser düsteren Vergangenheit.

Lee musste feststellen, dass auch 37 Jahre nach dem Sieg der Demokratiebewegung noch nicht alle dieselben Lehren aus der Geschichte ziehen. Die Lebensläufe im Land sind wohl zu verschieden. Lee selbst war Politik-Student an der Seoul National University (SNU), als Park Chung-hee 1961 den Militärputsch gegen die demokratisch gewählte Regierung anführte. Als junger Journalist der Zeitung Dong-A musste Lee mit dem Druck von oben umgehen und entwickelte ein Gespür für die Gefahren des Machtmissbrauchs. Die Schriftstellerin Han Kang, 54, hörte als Kind, wie die Erwachsenen über die Opfer des Aufstands in ihrer Geburtsstadt Gwangju raunten, den die Soldaten des Chun-Regimes im Mai 1980 brutal niedergeschlagen hatten. Das prägte sie und ihr Werk.

„Es ist wie ein Regenbogen. Sie sind optimistisch. Sie jubeln“, sagt Yoon Suk-yeol über die Demonstranten, die die Amtsenthebung des südkoreanischen Präsidenten fordern. (Foto: Ahn Young-joon/dpa)

Der 64-jährige Yoon Suk-yeol hingegen hat das Leid durch die Diktatur anscheinend nie sehr nah an sich herankommen lassen. Er erzählte mal, dass er kurz nach dem Gwangju-Aufstand als Jura-Student in einem Scheinprozess den Staatsanwalt gespielt habe und dabei eine lebenslange Haftstrafe für den Diktator Chun gefordert habe; danach sei er aufs Land geflohen. Aber im Grunde wuchs er behütet in einer Akademikerfamilie auf und konzentrierte sich auf seine Karriere als Staatsanwalt im südkoreanischen Rechtssystem, das bei der Demokratisierung der Nation so gut wie nicht verändert wurde.

Südkoreas Staatsanwälte haben viel Macht. Sie können Verdächtige befragen, ohne dass deren Anwälte dabei sein müssen. Es gibt keine Schöffen, die staatsanwaltschaftliche Erkenntnisse aus der bürgerlichen Perspektive prüfen. „Es gibt kein System von Kontrolle und Gegenkontrolle“, sagt Lee Boo-young. Yoon war zeitweise Generalstaatsanwalt. Er war keine Widerstände gewohnt. Deshalb konnte er als Präsident nicht mit der mächtigen gewählten Opposition umgehen. „Was wir jetzt sehen“, sagt Lee Boo-young, „ist das Produkt dieses Rechtssystems.“

Die Suspendierung des Präsidenten hat Lee Boo-young nicht beruhigt. Yoon verteidigt sich selbstbewusst. Es kursiert die Befürchtung, dass er damit beim Verfassungsgericht durchkommt. Die Anti-Yoon-Demonstrationen gehen weiter. Lee Boo-young macht mit, obwohl der Winter in Seoul kalt ist und ein bisschen Weihnachtsfrieden nicht schaden könnte. „Ich bin Tag für Tag sehr beschäftigt“, schreibt er Sonntagnacht via E-Mail.

Die Zeit der Diktatur hat auch ihr Werk geprägt: die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin Han Kang bei ihrer Rede in Stockholm. (Foto: Pontus Lundahl/TT/REUTERS)

Trotzdem hat Lee gerade jetzt auch ein gutes Gefühl. Er sieht die Leute auf den Straßen. Friedlich stehen sie für ihre Freiheit ein. Selbst Stars aus der sonst so unpolitischen K-Pop-Branche haben ihre Stimme erhoben. Südkoreas Zivilgesellschaft zeigt einen Mut, den es woanders so nicht geben kann. Chinas Parteidiktatur würde ihn nicht zulassen. In Japan dämpft der rechte Mainstream die Protestkultur. In Seoul dagegen schaut der alte Freiheitskämpfer Lee Boo-young auf die Nation und lobt mit leisem Stolz sein unruhiges Land, in dem die Menschen ihren Willen gegen die Macht ausdrücken können.

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:Han Duck-soo

Der Premierminister Südkoreas wird nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon Suk-yeol nun Interimspräsident. Er gilt als unabhängig und ausgleichend – den Putsch aber konnte er nicht aufhalten.

Von Thomas Hahn

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