Dass er nicht ins Gefängnis muss, war für den südkoreanischen Oppositionsführer Lee Jae-myung die wichtigste Nachricht nach der Abstimmung im Parlament. Das Ergebnis war trotzdem nicht gut für ihn, denn es war knapper, als es hätte sein dürfen, wenn alle Abgeordneten seiner Demokratischen Partei (DP) für ihn gestimmt hätten. Mit 139 zu 138 Stimmen bei neun Enthaltungen, elf ungültigen Wahlzetteln und zwei Absenzen schlug die Nationalversammlung in Seoul die Bitte der konservativen Regierung ab, Lee Jae-myung wegen Korruptionsverdachts zu verhaften. 169 Sitze hält die DP im 299-köpfigen Plenum, 115 die konservative PPP des Präsidenten Yoon Suk-yeol, 15 verteilen sich auf vier kleine Parteien.
Südkorea wählt seinen Präsidenten direkt und das Parlament in einer eigenen Wahl. Deshalb ist die Opposition im Parlament gerade stärker als die Regierungspartei. Und deshalb hatte man erwartet, dass dem DP-Chef Lee das südkoreanische Gesetz hilft, wonach Abgeordnete nicht ohne Zustimmung des Parlaments verhaftet werden dürfen. Aber das knappe Ergebnis zeigte, dass der Oppositionsführer auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten ist. Bis zu 30 DP-Abgeordnete könnten gegen ihn gestimmt haben.
Die beiden großen Parteien in Südkorea streiten nicht - sie bekriegen sich
Der Fall Lee Jae-myung steht für die Krise der jungen Demokratie Südkoreas. Er zeigt, dass ihr vertrauenswürdige Führungskräfte fehlen. Er zeigt außerdem, dass die politische Auseinandersetzung in der zehntgrößten Volkswirtschaft der Welt überschattet wird von Skandalen und Anfeindungen. Seit 1987 Massenproteste das Ende der autoritären Regierungen erzwangen, haben die beiden größten politischen Lager noch keine reife Debattenkultur entwickelt. Lees DP, die Partei derer, die sich einst erfolgreich gegen die Diktatur auflehnten, und Yoons People Power Party (PPP) des konservativen Establishments streiten nicht. Sie bekriegen sich.
Bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen im März 2022 wurde das besonders deutlich. Yoon und Lee, jeder auf seine Art ein Populist, überschütteten sich so konsequent mit Vorwürfen, dass viele Wählerinnen und Wähler gar nicht wussten, wer von beiden das größere Übel wäre. Der Ex-Staatsanwalt Yoon gewann knapp. Anschließend ahnten einige schon, dass Lee unter der neuen Regierung Probleme bekommen könnte; der Korruptionsverdacht gegen ihn war Thema im Wahlkampf gewesen.
Es geht unter anderem um Untreue und Bestechung
Und nun will die Staatsanwaltschaft ihn also tatsächlich verhaften. Es geht unter anderem um Untreue und Bestechung. Die Vorwürfe stammen aus der Zeit zwischen 2010 und 2018. Lee war damals Bürgermeister von Seongnam. Im Rahmen eines Immobilienprojektes soll er privaten Partnern Gewinne ermöglicht haben, die zulasten der Stadt gingen. Außerdem war er damals auch Präsident des FC Seongnam und soll für den Fußball-Klub Spenden im Austausch mit Gefälligkeiten der Verwaltung erwirtschaftet haben.
Die Staatsanwaltschaft ließ erst zwei Mitarbeiter von Lee aus dessen Bürgermeister-Zeit verhaften. Deren Aussagen erhärteten anscheinend den Verdacht. Lee beteuerte seine Unschuld bei Befragungsterminen, aber das nützte nichts. Vergangenen Dienstag gab das Justizministerium den Haftbefehl an das Parlament weiter mit der Bitte, ihn zu genehmigen. Es ist der erste Haftbefehl gegen einen Oppositionsführer in Südkoreas Geschichte.
Lee Jae-myung, 58, stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Er qualifizierte sich über die Abendschule für sein Jurastudium, war erst Bürger-Anwalt, dann Bürgermeister, dann Gouverneur der Provinz Gyeonggi. Der Versuch, 2022 Präsident zu werden, war schon sein zweiter. Aber 2017 konnte er sich parteiintern nicht gegen den sympathischen Moon Jae-in durchsetzen, der dann tatsächlich Präsident wurde. Als begabter Sozial- und Finanzpolitiker wurde Lee in seinen Ämtern zeitweise beschrieben. Aber ein Kandidat der Herzen ist er nicht. Im Gegenteil, er gilt als nassforsch, laut, unberechenbar.
Die Vorwürfe hat Lee Jae-myung immer wieder als gefälscht und politisch motiviert dargestellt. Erst vergangenen Donnerstag beklagte er "ein Zeitalter der Gewalt, in dem eine Hetzjagd unter dem Deckmantel des Rechtsstaates zum Alltag geworden ist". Tatsächlich würde es den Haftbefehl gegen Lee bestimmt nicht geben, wenn er jetzt Präsident wäre. Aber ob das fair ist? Selbst DP-Leute haben Zweifel. In der Zeitung Korea Herald sagte ein Mitglied, bei der Wahl zum Parteichef hätten "Mitglieder das Pro-Lee-Flügels die Bedenken anderer Mitglieder wegen des Risikos, rechtliche Schwierigkeiten zu bekommen, ignoriert". Und das Abstimmungsergebnis vom Montag war kein Vertrauensbeweis. Lee Jae-myung saß wie versteinert auf seinem Parlamentsplatz, als er es hörte.