Süddeutsche Zeitung

Südkorea:Ein Professor spaltet das Land

In Seoul finden derzeit Massendemos statt, abwechselnd organisiert von unterschiedlichen Lagern: Das eine fordert eine Justizreform, das andere bekämpft den zuständigen Minister.

Von Thomas Hahn, Seoul

Bei den Bäumen am Straßenrand, umgeben vom Lärm der großen Kundgebung im Seouler Stadtteil Soecho, steht Kim Soon Jung, demonstriert und staunt. "Ich bin hier, um die Justizreform der Regierung zu unterstützen", sagt die Unternehmerin und schaut auf das bewegte Meer aus LED-Kerzen und Plakaten, das den Boulevard nahe dem Gebäude der Staatsanwaltschaft flutet. "Das ist Wahnsinn", sagt sie, während auf der Bühne mit mächtigem Videoschirm die nächste Rede gegen staatsanwaltschaftliche Willkür läuft. "So viele Menschen. So friedlich. Und sie sind von sich aus gekommen." Das ist ungewöhnlich in Südkorea? Kim Soon Jung lächelt. "Ja, das ist ungewöhnlich." Über den konservativen Reformwiderstand, der vor wenigen Tagen seinerseits den zehnspurigen Boulevard am Gwanghwamun-Platz in Seouls City mit Demonstranten füllte, sagt sie lieber nichts.

Es sind bewegte Zeiten im Tigerstaat, ein tiefer Riss durchzieht Südkoreas Gesellschaft. Konservative Kräfte sind in Aufruhr. Andere Kreise des politisch interessierten Bürgertums drücken ihre Hoffnung auf Veränderung aus. Präsident Moon Jae-in von der liberalen Minjoo-Partei hat diese Hoffnungen befeuert nach seiner Direktwahl vor zweieinhalb Jahren, die der Amtsenthebung seiner konservativen Vorgängerin Park Geun-hye folgte. Park Geun-hye sitzt seit April 2018 eine jahrzehntelange Gefängnisstrafe wegen Bestechlichkeit und Amtsmissbrauch ab, während Moon für eine bessere Korruptionsbekämpfung arbeitet.

Moon hat viel versprochen, als er ins Amt kam, zu viel, sagen viele und sind enttäuscht. Aber mit seiner Rechtsreform macht er Ernst. Er will die Machtbalance im Justizsystem verbessern. Die Polizei soll mehr Ermittlungsbefugnisse bekommen, dazu soll eine Sonderagentur für Korruptionsfälle von hohen Regierungsvertretern entstehen. Bisher hat die Staatsanwaltschaft so viel Macht, dass sie Politiker schützen kann, die sie schützen will. "Parteiische Staatsanwälte raus" und "Rechtsreform" steht deshalb bei der großen Demonstration in Seocho auf den Plakaten, die das veranstaltende "Pan-Nationale Bürger-Komitee gegen den existierenden Rechtsmissbrauch" ausgegeben hat.

Die Demonstration war die vorerst letzte einer ganzen Serie von Kundgebungen für die Reform. Und sie war tatsächlich wieder sehr groß. Die Polizei gab keine Zahlen bekannt, aber alle vier Straßen an der großen Kreuzung bei der U-Bahn-Station Seocho waren voll mit Menschen. Sie saßen auf dem Asphalt wie bei einem alternativen Happening, schwenkten ihre Kerzen und bejubelten die Redner.

So viel ausdrückliche Zustimmung für eine Regierung kommt nicht oft vor, weil Demonstrationen in gewachsenen Demokratien doch meistens von Einspruch und Protest geprägt sind. Aber Südkoreas Demokratie ist eben relativ jung. Es gibt noch einiges zu erreichen bei den Themen Freiheitsrechten und stimmige Gewaltenteilung. Eine Regierung, die das tut, bewegt ihre Befürworter. Allerdings auch ihre Gegner. Die Protestbewegung, angeführt von der konservativen Freiheitspartei Koreas (FPK), der stärksten Oppositionspartei im Parlament, ist sehr rege. Besagte Demonstration am Gwanghwamun-Platz zog am Donnerstag drei Millionen Menschen an - zumindest meldete das die veranstaltende FPK. Ihre Wut zielt vor allem auf eine Personalie: Moons neuer Justizminister Cho Kuk hat ein Problem.

Einige Enthüllungen lassen ausgerechnet ihn, den Architekten der Reform und bisherigen Juraprofessor, schlecht aussehen. Am Samstag hatte sich seine Frau wieder vor den Ermittlungsbehörden einzulassen, weil sie der gemeinsamen Tochter Privilegien für ihr Medizinstudium verschafft haben soll. Es geht auch um Investitionen der Cho-Kuk-Familie in einen angeblich dubiosen privaten Aktienfonds. Seit zwei Monaten vergeht kein Tag ohne Berichte über den Fall. Vor allem konservative Medien sind umfassend informiert.

Anfang September ernannte Moon seinen Vertrauten Cho wie angekündigt zum Minister; dieser hatte ausführlich erklärt, er sei schuldlos in die Affäre geschlittert. Aber die Gegner lassen nicht locker. Einige Politiker haben sich zuletzt medienwirksam die Haare abrasieren lassen, um Zeichen zu setzen. Darunter der FPK-Vorsitzende Hwang Kyo-ahn, einst Premierminister unter Präsidentin Park. "Das ist eine Warnung an Präsident Moon Jae-in: Richten Sie sich nicht gegen den Willen der Menschen", sagte Hwang nach der Rasur.

Ist Cho Kuk auch nur einer, der seinen Vorteil sucht? Eine berechtigte Frage, finden auch die Befürworter der Reform, doch sie sei nicht das dringendste Problem. "Ich würde nicht sagen, dass er unschuldig ist", sagt Kim Soon Jung, die demonstrierende Unternehmerin. Trotzdem steht sie auf Cho Kuks Seite. "Es geht ja um die Sache", sagt sie.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2019
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