Chung Dong-young ist jetzt Südkoreas Mann fürs bessere Verhältnis mit Nordkorea. Der 71-jährige Ex-Parlamentarier wurde vom neuen Präsidenten Lee Jae-myung für das Amt des Vereinigungsministers nominiert. Für Chung ist es ein Comeback. Denn von Juni 2004 bis Februar 2006 hatte er den Posten schon einmal. Damals vertrat er die sogenannte Sonnenscheinpolitik des liberalen Präsidenten Roh Moo-hyun, die im Konflikt mit dem autoritären Bruderstaat auf Versöhnung und Austausch setzte.
So ähnlich wird Chung Dong-young jetzt wieder arbeiten, denn Präsident Lee will sich abgrenzen von der harten Linie seines rechtskonservativen Vorgängers Yoon Suk-yeol. Und vergangene Woche hatte Chung auch schon seinen ersten Einsatz, obwohl das Parlament seine Beförderung erst noch bestätigen muss. Zu den amerikanischen Luftangriffen auf Irans Atomanlagen wurde er von Reportern befragt: Wie Südkorea den Nordkoreanern die Furcht vor ähnlichen Attacken nehmen könne?
Einen zweiten Korea-Krieg möchte man sich nicht vorstellen
Chung Dong-young gab darauf eine Antwort, in der auch südkoreanische Ängste mitzuschwingen schienen. „Unter keinen Umständen darf das Problem mit Gewalt oder Krieg gelöst werden“, sagte Chung. Die Bilder der Zerstörung in Nahost seien eine Mahnung. „Es ist unsere Verantwortung, die Möglichkeit eines Krieges hier dauerhaft auszuschließen.“
Gut gesprochen vom designierten Minister Chung. Denn in der Tat möchte man sich keinen zweiten Korea-Krieg vorstellen nach den Verheerungen des ersten von 1950 bis 1953. Aber der kurze Krieg zwischen Iran und Israel, den die USA mit ihrem Präzisionsbombardement beendeten, wirft Fragen auf. Der US-Partner Israel griff Iran an, weil er sich von Irans Nuklearprogramm bedroht fühlte. Auch der US-Partner Südkorea fühlt sich von Nordkoreas Nuklearprogramm bedroht. Könnten demnach nicht ein paar gezielte US-Attacken zumindest fürs Erste auch die Gefahr abräumen, die vom Regime des Machthabers Kim Jong-un ausgeht?
Könnten sie nicht. Denn Nordkorea ist ein ganz anderer Gegner als Iran. Vor allem, weil Nordkorea längst hat, was Iran mit hoher Wahrscheinlichkeit erst noch entwickeln will: Atomwaffen. Für die Parteidiktatur der Herrscherfamilie Kim sind sie eine Art Lebensversicherung. Ihre Nuklear-Aufrüstung läuft seit Jahrzehnten, durchaus auch mit Tarnen und Täuschen. 1985 ratifizierte Nordkorea den Atomwaffensperrvertrag, aber widersetzte sich den Regeln der Internationalen Atomenergiebehörde. Das Genfer Rahmenabkommen mit den USA von 1994 sollte Nordkoreas friedliche Atomenergienutzung regeln. Aber es scheiterte. 2003 stieg Nordkorea aus dem Atomwaffensperrvertrag aus. 2005 gab das Regime zu, Atomwaffen zur Selbstverteidigung gebaut zu haben. 2006 folgte sein erster unterirdischer Atombombentest.
Nordkorea hat spaltbares Material für bis zu 90 Atomsprengköpfe
Sanktionen der Vereinten Nationen und Verhandlungen haben das Regime seither nicht davon abhalten können, sein Arsenal auszubauen. 2018 sah es kurz so aus, als würde es einlenken. Nach Nordkoreas sechstem unterirdischen Atombombentest im September 2017 hatten sich die Spannungen verschärft. Donald Trump war damals noch nicht lange US-Präsident, er und Kim Jong-un tauschten Drohungen aus. Eine Eskalation lag in der Luft, aber Südkoreas damaliger Präsident, der liberale Moon Jae-in, konnte Gespräche zwischen Trump und Kim vermitteln. Und im Mai 2018 ließ Kim Jong-un als Zeichen seines guten Willens die Atomtestanlage in Punggye-ri zerstören. Danach trafen sich Trump und Kim dreimal. Die Verhandlungen scheiterten. Nordkoreas Atomwaffenproduktion ging weiter.
Heute hat Nordkorea spaltbares Material für bis zu 90 Atomsprengköpfe und möglicherweise schon rund 50 davon zusammengebaut – das schätzt die Denkfabrik Congressional Research Service (CRS) des US-Parlaments in ihrem jüngsten Bericht von diesem Mai. Pjöngjang verfügt außerdem über Langstreckenraketen, mit denen es Ziele in den USA treffen könnte.
Schon Nordkoreas konventionelle Artillerie ist eine ernste Bedrohung. Südkoreas Hauptstadt Seoul liegt in Reichweite. Joung Kyeong-woon vom Seoul Defense Forum sagt im Korea Herald: „Der Hauptgrund dafür, dass Nordkorea nicht angegriffen werden kann, liegt darin, dass wir im Grunde Geiseln seiner Artillerie sind, die weitaus einfacher einzusetzen ist als Atomwaffen.“ 1994 erwogen die Amerikaner unter Präsident Bill Clinton, das Regime mit einem Angriff auf die Atomanlage in Yongbyon zu erschüttern – Südkoreas Präsident Kim Young-sam warnte damals erfolgreich vor den Folgen; so steht es in seinen Memoiren. Ob ein US-Angriff viel bringen würde, ist ebenfalls fraglich. „Die wichtigsten Nuklear- und Raketenanlagen Nordkoreas befinden sich Hunderte von Metern unter der Erde, unter festem Felsgestein in den Bergregionen im Nordwesten des Landes“, sagt Joung, „keine Waffe könnte sie direkt zerstören.“
Gibt der US-Angriff auf Iran Nordkorea zu denken?
Seine Gesetze hat Pjöngjang längst so angepasst, dass sie den Nuklearstreitkräften Präventiv- oder Erstschlag-Möglichkeiten zubilligen. Dazu kommt das Sicherheitsabkommen mit Moskau, das Kim Jong-un und Russlands Präsident Wladimir Putin vergangenes Jahr abgeschlossen haben: Es sieht die gegenseitige Verteidigung bei Angriffen vor. Und China wäre sicher auch gereizt, wenn die USA seinen Nachbarn Nordkorea bombardieren würden.
Mancher Beobachter denkt, dass der US-Angriff auf Irans Atomanlagen Kim Jong-un zu denken gibt. „Ich glaube, dass Nordkoreaner in zwei Fällen zu Gesprächen bereit sind: wenn sie Angst haben oder wenn sie Geld wittern“, sagt Nordkorea-Forscher Andrei Lankow von der Seouler Kookmin-Universität im Portal NK News. Nun habe sich gezeigt, dass die Trump-Regierung „unter bestimmten Umständen den ersten Schlag führen kann – das hat die Verhandlungsbereitschaft Nordkoreas erhöht“.
Andere glauben das Gegenteil. Atomwaffen schützen, das zeigt die Geschichte. An Iran hat Kim Jong-un wieder gesehen, wohin es führen kann, wenn man keine hat. Nach Trumps Angriffen dürfte er seine Aufrüstungsstrategie fortsetzen – und Nordkorea mit Russlands Hilfe noch stärker werden.

