Süddeutsche Zeitung

Coronavirus in Südkorea:Die eine Infektion, die das Gefühl der Krise zurückbringt

Profi-Sportligen wurden gestartet, Schulen öffnen wieder - Südkorea, das Musterland der Coronavirus-Bekämpfung, ist auf dem Weg zur Normalität. Bis ein 29-Jähriger in Seoul feiern geht.

Von Thomas Hahn, Tokio

Am Sonntag sprach Südkoreas Präsident Moon Jae-in zur Nation. Anlass war der dritte Jahrestag seiner Amtszeit, aber in seiner Rede gab es nur ein Thema: die Folgen der Corona-Pandemie für Gesellschaft und Wirtschaft. Er sprach von Nöten, die mittlerweile selbst starke Unternehmen betreffen, und von der wachsenden Angst vor Arbeitslosigkeit in der Bevölkerung. "Zweifellos ist dies wirtschaftlich eine Kriegszeitsituation", sagte Moon, ehe er den Menschen Mut zurief: Seine Regierung werde die Chance in der Krise finden und neue Jobs für eine postpandemische Moderne schaffen.

Seine Stichworte: Informations- und Kommunikationstechnik, Dienstleistungen ohne persönliche Begegnung, Online-Erziehung, Online-Geschäfte, Seuchenvorsorge, Biotechnologie. "Wir haben große Fähigkeiten, um Vorreiter der digitalen Wirtschaft zu sein, indem wir die vierte industrielle Revolution mit Technologien wie künstlicher Intelligenz und Big Data verbinden", sagte Moon.

Es war eine angemessene Rede für eine kleine Hightech-Nation, über die gerade die ganze Welt staunt wegen ihres erfolgreichen Coronavirus-Managements. Allerdings ist die Pandemie noch nicht vorbei, auch in Südkorea nicht, zumindest wenn der Anspruch ist, die Lungenkrankheit Covid-19 auszurotten.

Die Masseninfektion in einem Seouler Nachtclub-Bezirk hat das Gefühl der Krise wieder zurückgebracht. In der vergangenen Woche verzeichnete Koreas Zentrum für Seuchenkontrolle (KCDC) zeitweise nur noch vereinzelte importierte Neuinfektionen und gar keine inländischen mehr. Seit Freitag ist das wieder anders. Ein einziger 29-jähriger Partygast mit Covid-19-Infektion hat gereicht, um die Behörden wieder in Alarm zu versetzen. Dabei wollte man sich doch eigentlich schon ungestört mit der Rückkehr zur neuen Normalität befassen.

34 neue Covid-19-Fälle meldete das KCDC am Sonntag. 24 davon standen in Verbindung mit dem 29-Jährigen, der am Wochenende zuvor durch Bars und Clubs des Multi-Kulti-Viertels Itaewon gezogen war.

Das KCDC rief Besucher der betroffenen Klubs auf, sich in eine medizinische Isolation zu begeben, weil nicht auszuschließen ist, dass sie sich auch ohne Symptome das Coronavirus eingefangen haben. 1510 könnten insgesamt in den Lokalen gewesen sein, schätzen die Behörden, aber genau weiß man es nicht, weil das Erfassungssystem der Etablissements fehlerhaft gewesen sei.

Seouls Bürgermeister Park Won-soon sagte, dass die Behörden deshalb mehr als 1300 Personen nicht auffinden konnten, und startete einen Aufruf an alle, die in den betreffenden Lokalen waren, sich freiwillig testen zu lassen. Außerdem erließ er ein Verbot für Versammlungen in Unterhaltungs-Lokalen. "Wir haben keine andere Wahl, weil wir den Eindruck haben, dass die Empfehlungen an Betreiber zur Selbstkontrolle nicht ausreichend sind, wenn man die Anfälligkeit der Eingangserfassung in den Clubs bedenkt." Am Wochenende war es prompt sehr ruhig in Itaewon, wo sonst alles voll mit Menschen, Licht und Farben ist.

Die Rückkehr zur Normalität ist nicht leicht bei einer hochansteckenden Krankheit, die bei vielen Patienten keine oder nur milde Symptome zeigt. Südkorea hatte nie einen strengen Lockdown wie die USA oder europäische Länder. Viele Geschäfte und Cafés blieben offen, die Menschen durften auf die Straßen. Das funktionierte nicht nur wegen des umfassenden Ermittlungs- und Testsystems der Behörden. Das funktionierte auch, weil sich die Menschen im Land mit großer Disziplin an die Empfehlungen zum Infektionsschutz hielten, viel zu Hause blieben und eben nicht alles taten, was sie offiziell hätten tun dürfen.

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Jetzt, mehr als drei Monate nach den ersten Vorsichtskampagnen, will Südkoreas Regierung die Menschen allmählich aus dem Schutz der sozialen Distanz entlassen und sie wieder daran gewöhnen, dass sie rausgehen können. Es sind tastende Versuche. Schon die Parlamentswahl am 15. April war geprägt von massiven Vorsichtsmaßnahmen.

Die Infektion in Itaewon hat viele zusätzlich verunsichert

Vergangene Woche haben die nationalen Profiligen in Baseball und Fußball ihren Spielbetrieb wiederaufgenommen - aber zunächst ohne Zuschauer. Diese Woche sollen die Schulen für die älteren Jahrgänge wieder öffnen, eine Woche später die für die jüngeren. Aber viele Eltern sind nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Die Infektion in Itaewon hat viele zusätzlich verunsichert.

Die Korea Times zitiert unter anderem den Angestellten Yeo Chul-hyung, Vater einer neunjährigen Tochter und eines sechsjährigen Sohnes: Er könne seine Kinder nicht einfach so zurück in Schule und Kindergarten schicken. "28 Kinder sind in der Klasse meiner Tochter. Stellen Sie sich vor, nur einer wird positiv getestet, dann müssten alle anderen 27 Kinder und 54 Eltern in Quarantäne", sagt er. Die Zahl der zu isolierenden Menschen könnte schnell ansteigen. "Kann die Regierung mit diesem Szenario umgehen? Ich bezweifle das ernsthaft."

Die Regierung hat schon gesagt, dass man in Zukunft Fieber-Checks an den Eingängen öffentlicher Gebäude zu erwarten habe und Klimaanlagen nur noch bei offenem Fenster laufen dürfen. Einreiseregelungen bleiben streng. Aber die Behörden spüren vor allem nach den Ansteckungen im Seouler Nachtleben, wie kompliziert es ist, die Virusangst aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. Es ist noch ein weiter Weg bis zur Normalität nach der Pandemie. Auch im Musterland der Coronovirus-Bekämpfung.

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