Süddeutsche Zeitung

Südamerika:Venezuelas taumelnder Staatschef

Präsident Maduro hat die Verfassungskrise für "erfolgreich überwunden" erklärt. Diese Einschätzung zeugt von Realitätsverlust im Endstadium. Wie lang kann er sich noch halten?

Kommentar von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Mit einem kleinen, blauen Buch in der Hand hat der venezolanische Präsident Nicolás Maduro die Verfassungskrise in seinem Land für "erfolgreich überwunden" erklärt. Das Büchlein war die Verfassung. Sie wurde 1999 unter Maduros Vorgänger Hugo Chávez verabschiedet. Darin steht, die Bolivarische Republik Venezuela sei eine Präsidialdemokratie mit geteilten Gewalten, alle Macht liege beim Volke.

Zu Zeiten von Chávez konnte man zumindest noch darüber streiten, wie lupenrein sie war, diese Demokratie. Manche hielten seinen Erdölpopulismus für ein gesellschaftliches Vorbildprojekt mit einigen Schwächen, andere für ein autoritäres Selbstzerstörungskommando mit sozialem Anstrich. Unter Präsident Maduro ist diese Debatte überflüssig. Dass er sich noch traut, mit dem blauen Buch vor den Kameras des Staatsfernsehens zu wedeln, zeugt von Realitätsverlust im Endstadium.

Die Verfassung existiert in Venezuela nur noch auf dem Papier

Allerspätestens seit dem jüngsten Versuch, dem von der Opposition dominierten Parlament alle Kompetenzen zu entreißen, steht fest: Die Verfassung existiert in Venezuela nur noch auf dem Papier. Nach einem Sturm der Entrüstung aus dem In- und Ausland hat zwar der Oberste Gerichtshof den Beschluss zur Entmachtung des Parlaments wieder zurückgenommen. Aber das geschah ausgerechnet auf Anordnung des Staatspräsidenten. Damit ist alles gesagt über die Abhängigkeit der Justiz im Land.

Auch die beiden anderen Gewalten sind keineswegs geteilt. Dass die Nationalversammlung nun offiziell weiterexistieren darf, bedeutet nicht, dass es in Venezuela eine funktionsfähige Legislative gäbe. Die gibt es schon lange nicht mehr. Das Parlament wurde seit dem Erdrutschsieg der Opposition Ende 2015 zum machtlosen Debattierklub degradiert, an dem das Maduro-Regime mit Hilfe seiner Handlanger im höchsten Gericht schamlos vorbeiregiert. Freie Wahlen auf nationaler und regionaler Ebene werden verschleppt, Oppositionspolitiker und kritische Journalisten verfolgt oder verhaftet.

Gleichzeitig geht dem ölreichsten Land der Welt das Benzin aus. In den Straßen herrscht das Recht des Stärkeren, in den Läden fehlen Lebensmittel, in den Krankenhäusern Medikamente. Die der Form nach sozialistische Demokratie erfüllt heute alle Voraussetzungen einer Diktatur. Nach den Volten der zurückliegenden Tage drängt sich aber die Frage auf: Ist Maduro überhaupt der Diktator oder bloß noch eine Marionette der eigentlichen Machthaber im Hintergrund?

Maduros Position hat sich deutlich verschlechtert

Vieles deutet daraufhin, dass er im Fall des versuchten Staatsstreichs gegen das Parlament nicht etwa auf internationalen Druck einlenkte, sondern weil ihm entscheidende Kräfte innerhalb der chávistischen Bewegung in den Rücken fielen. Vor allem der Vorstoß der bislang systemtreuen Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz zwang Maduro zur Kehrtwende. Es sei ihre "historische Pflicht", den "Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung" zu verurteilen, teilte sie mit.

Die chávistische Partei hat zwei konkurrierende Flügel, einen zivilen und einen militärischen. Ausgerechnet unter dem Zivilisten Maduro hat das Militär stetig an Einfluss gewonnen, nur durch weitreichende Zugeständnisse an die Generäle kann sich der ehemalige Busfahrer im Amt halten. Seine Position hat sich seit Beginn des Jahres aber deutlich verschlechtert.

Wenn Maduro jetzt stürzen würde, gäbe es keine Neuwahlen, es rückte automatisch der nächste Chávist nach. Die Partei ist also nicht mehr auf den taumelnden Staatschef angewiesen, sie bliebe auch ohne ihn an der Macht. Von der Rückkehr zur verfassungsrechtlichen Ordnung des blauen Büchleins ist Venezuela weit entfernt - mit oder ohne Maduro.

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SZ vom 03.04.2017/fie
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