Liest man Berichte von Abenteurern, die den Urwald bereisten, könnte man glauben, dass dieser Ort nicht für Menschen gemacht ist. Wilden Tieren, Hunger, Durst und Krankheiten muss getrotzt werden.
Wofür? Ruhm, Abenteuer, Reichtum?
"Ich verabscheue Reisen", beginnt der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss sein Buch über die Indianervölker Brasiliens, zu denen er mehrere Expeditionen unternahm. "Das Ende einer Zivilisation, der Beginn einer anderen, die plötzliche Entdeckung, daß unsere Welt vielleicht zu klein zu werden beginnt für die Menschen, die sie bewohnen."
Manuskript 512 berichtet von einer verlassenen Stadt
Im 18. Jahrhundert durchkämmten Entdecker den brasilianischen Urwald auf der Suche nach Gold und Silber. In der Nationalbibliothek von Rio de Janeiro soll ein Schriftstück aufbewahrt werden, das nur als Manuskript 512 bekannt ist, und das von einer portugiesischen Expedition im Jahr 1754 zum Mato Grosso, dem Herzen Brasiliens, berichtet.
Die unbekannten Verfasser berichten darin von einer verlassenen Stadt, die sie auf einer Ebene jenseits der Berge und Urwälder entdeckt haben wollen. Sie beschreiben eine breite Straße und "sehr große Häuser" aus bearbeitetem Stein, teilweise mit unbekannten Schriftzeichen, die in dem Manuskript wiedergegeben werden.
In der Mitte eines großen Platzes soll sich eine Säule aus schwarzem Stein mit der Statue eines Menschen auf der Spitze befunden haben. Große Teile der restlichen Stadt aber seien völlig zerstört und von Erdmassen begraben gewesen.
Bis heute ist weder bekannt, wo sich diese von den Entdeckern beschriebene Stadt befindet und ob sie überhaupt in dieser Form existierte, noch, um welche Zivilisation es sich gehandelt hat, die solche Bauwerke errichten konnte, aber dann scheinbar spurlos verschwand. Vielleicht verfolgte auch niemand die Spur dieser Entdeckung weiter, weil es in der Kolonialzeit als unvorstellbar galt, dass die "wilden" Völker des Amazonas überhaupt eine Zivilisation hätten aufbauen können.
Rassistische Vorurteile von der Unterlegenheit der Indianer vermischten sich mit falschen Vorstellungen vom Leben im Regenwald, über den gesagt wurde, dass er gar keine größere menschliche Bevölkerung mit Nahrung versorgen könne. Man dachte, die Welt der anderen sei zu klein für die Menschen, die sie bewohnen, um es mit Lévi-Strauss zu formulieren.
Erst 150 Jahre später machte sich ein weiterer Entdecker mit einer anderen Agenda als die portugiesischen Schatzsucher auf, das Geheimnis dieser verlorenen Stadt zu lüften: Der britische Soldat, Geheimagent und Abenteurer Percy Harrison Fawcett (1867-1925), Mitglied der Royal Geographical Society, hatte das Manuskript entdeckt und was er darin las, deckte sich mit Erzählungen von einer untergegangenen Zivilisation, die er auf seinen vorherigen Expeditionen in den Urwald von Eingeborenen gehört hatte.
Der Journalist David Grann veröffentlichte 2009 ein Buch über Fawcett und seine Suche nach dieser Stadt, die er nur "Z" nannte, das im vergangenen Jahr auch als angenehm altmodischer Abenteuerfilm in die Kinos kam.
Wenn es ein Vorbild für Indiana Jones gab, dann war es mit Sicherheit Fawcett, der Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag der britischen Krone den Sultan von Marokko ausspionierte und später mehrere Expeditionen in Lateinamerika anführte. Auf einer solchen ging er auch 1925 mit seinem Sohn und einem Freund verloren.
Fawcetts Reiseberichte von anderen Expedtionen sind voller Riesenschlangen, gefährlicher Tropenkrankheiten und Indianerüberfälle mit Giftpfeilen - manches davon war vermutlich gar nicht so sehr übertrieben. Fawcett war aber nicht nur ein Abenteurer, der den Kick gesucht hat.
Wahrscheinlich war er das auch, aber ebenso kartografierte und katalogisierte er seine Entdeckungen für Vorträge in der Royal Geographical Society - und er wollte der zeitgenössischen Vorstellung von der Unterlegenheit der Indianervölker nicht uneingeschränkt folgen.
Durch das Manuskript 512 sah er sich darin bestätigt, was er schon durch seine Aufenthalte bei den Eingeborenen beobachten konnte: Die indigenen Völker waren Meister darin, den Urwäldern mit einfachsten Mitteln Ressourcen abzutrotzen.
Warum sollten sie nicht eine Zivilisation errichten können? Hinweise darauf gab es genug: Stämme mit Tausenden Mitgliedern, Tonscherben und Steine mit rätselhaften Markierungen mitten im Dschungel, Schneisen im Wald, die aussahen wie schnurgerade Straßen.
Inzwischen sollen Hunderte Keramik-Reste im Urwald gefunden worden sein
Die rassistischen Vorurteile seiner Zeit gegenüber der indigenen Bevölkerung legte Fawcett aber nie ganz ab, trotz seines generellen Wohlwollens ihnen gegenüber. Zwischen dem wissenschaftlichen, vermeintlich objektiven Bild dieser Zeit und der eigenen Wahrnehmung klafft ein Spalt.
Es ist das grundsätzliche Problem des Ethnografen, nicht unähnlich dem, das Lévi-Strauss in seinem kleinen Beispiel als Grenzen der Zivilisationen beschreibt. Er wollte eigentlich eine Schiffspassage nach Brasilien buchen, was sich aber, obwohl es inzwischen eine Flugverbindung zwischen den Kontinenten gab, als nicht ganz einfach herausstellte. Das erfuhr er aber "nicht so sehr durch die Zahlen, Statistiken und Revolutionen", sondern einfach durch einen Telefonanruf. Das Objektive zeigt sich im Subjektiven.
Erst in jüngster Zeit wurden Fawcetts Ideen von einer uralten Amazonas-Zivilisation wieder aufgenommen. Er ist nicht der Einzige, der mitten im Dschungel alte Keramiken und Steininschriften entdeckte. Die Funde sollen inzwischen in die Hunderte gehen.
Einige Wissenschaftler wollen sogar mit neuen Methoden Strukturen von jahrtausendalten Bauwerken unter dem Boden des Regenwalds entdeckt haben. Spuren einer verlorenen Zivilisation, die nicht nur gebaut, sondern auch den Urwald kultiviert und damit dessen Artenvielfalt gefördert haben soll. Ist der Dschungel kein Ort für Menschen - oder ist er vielleicht sogar maßgeblich vom Menschen mitgestaltet?
Ergänzte Version des Textes aus der SZ vom 04.08.2018.