Süddeutsche Zeitung

Sudan:"Wir hatten nichts zu verlieren"

Ula Osman war unter den vielen Tausend jungen Leuten, deren Proteste im Sudan 2019 den Sturz des Machthabers Omar al-Baschir bewirkten. Jetzt arbeitet sie für die Übergangsregierung und ist stolz, ein Teil des neuen Landes zu sein.

Interview von Anna Reuß

Vor einem Jahr stürzten die Sudanesen den Diktator Omar al-Baschir, der das Land zuvor 30 Jahre lang im Griff hatte. Einige sahen in dem friedlichen Protest einen zweiten Arabischen Frühling. Junge Frauen und Männer, die damals auf die Straße gingen, sprechen heute selbstbewusst von der Revolution - genau wie die Ägypter vor fast zehn Jahren. Während in Kairo jedoch Präsident Abdel Fattah al-Sisi heute autoritärer denn je regiert, ließen die Sudanesen kein Militärregime zu, sondern stritten mit den Putschisten aus dem Militär erbittert um die Machtaufteilung. Das Ergebnis - eine Übergangsregierung - gilt als Erfolgsgeschichte.

Die Fotografin Ula Osman, 22, arbeitet für die Regierung in Khartum. Sie protestierte monatelang und dokumentierte die Demonstrationen mit der Kamera.

SZ: Wieso sind Sie auf die Straße gegangen?

Ula Osman: Ich war das erste Mal am 24. Dezember 2018 demonstrieren. Auf der Straße, in der Menge, denkst du an nichts als an deine Freiheit. Frauen im Sudan hatten unter al-Baschir keine Rechte, weder zu Hause noch draußen. Wir waren wie Spielzeug. Im System al-Baschir durften Frauen überhaupt nichts. Wie viele andere bin ich kein Opfer, aber eine Überlebende von Gewalt gegen Frauen. Ich war auf der Straße, weil ich für mich selbst etwas verbessern möchte, für alle Mädchen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Frauen spielten eine große Rolle bei den Protesten. Viele waren Witwen und hatten deshalb praktisch keine Rechte im Staat. Sie versorgten die Demonstranten mit Tee oder Essen und waren deshalb ein wichtiger Teil unserer Revolution.

Haben Sie Ihr Ziel erreicht?

Oh, ja. Früher hatte ich Angst, vor die Tür zu gehen. Heute bin ich eine der jüngsten Mitarbeiterinnen der Regierung und arbeite zum Beispiel an der Prävention von Gewalt gegen Frauen.

Waren die sudanesischen Demonstrationen rückblickend so etwas wie die zweite Welle des Arabischen Frühlings, wie es vor allem westliche Journalisten gerne darstellen?

Nein, das glaube ich nicht. Zweite Welle - das klingt für mich wie ein Magazintitel oder so etwas. Mir ging es nie um die zweite Welle, sondern es ging mir um meinen Sudan. Wir wollten den Sturz al-Baschirs und seines politischen Systems.

Viele Demonstranten im Sudan waren wie Sie sehr jung.

Die Jugend führt diese Revolution an. Wir forderten Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, so lautete einer unserer Slogans. Wir wollten Arbeit und ein besseres Leben. Unter al-Baschir gab es das nicht. Die meiste Zeit hatten wir Angst vor dem Militär und der Polizei. Das hat uns junge Menschen motiviert, denn wir hatten nichts zu verlieren.

Welche Bedeutung hat der sogenannte Arabische Frühling für Sie?

Als die Proteste damals in Tunesien begannen, war ich gerade einmal zwölf. Egal ob es Ägypten oder Libyen war, oder Jemen und Syrien: Die Protestbewegungen nahmen fast überall kein gutes Ende. Dort haben Militärs im Namen der Revolution die Macht ergriffen und sind nun an der Spitze der Regierung. Ich wollte nicht, dass mein Land so etwas auch erlebt.

Haben die Proteste von damals Sie also nicht inspiriert?

Natürlich waren die Bewegungen von damals eine Inspiration für uns. Wenn man als junger Mensch so viel Ungerechtigkeit erleben musste wie wir Sudanesen, dann wusste man genau, worum es den Demonstranten ging. Jeder hier wusste, dass diese Aufstände ein größeres Ziel hatten, als nur ein paar Diktatoren zu vertreiben. Im Kern ging es um eine breite Forderung der Öffentlichkeit nach besserer Regierungsführung, nach Rechtsstaatlichkeit, nach wirtschaftlichem Aufschwung und vor allem nach Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Länder.

Bedeuten die Slogans von damals noch etwas für Sie, etwa: "Das Volk will den Sturz des Regimes"?

Nun ja, wir wollen ja dieses "Regime" mit Bedeutung füllen (sie lacht). Natürlich konnte ich mich mit der Forderung identifizieren. Als man mir nach dem Sturz al-Baschirs einen Job bei der neuen Regierung angeboten hat, zögerte ich erst. Denn ich wusste, ich würde nie mehr wegschauen und still sein können, wenn etwas falsch läuft. Heute bin ich stolz, Teil des neuen Sudans zu sein.

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