Süddeutsche Zeitung

Sudan:Die Revolution sucht ihre Richtung

Der Diktator ist weg, aber das System im Sudan eigentlich noch dasselbe: Besuch bei den Demonstranten in Khartum, die beim Kampf gegen die korrupte Staats-Hydra nicht aufgeben.

Von Bernd Dörries, Khartum

"Wir haben zu Hause gesessen und haben darauf gewartet, dass die Männer den Wechsel hinbekommen", sagt Islam Yousef. Sie sitzt jetzt nicht mehr zu Hause, sondern auf dem Gleis einer Bahnstrecke, die mitten durch die sudanesische Hauptstadt Khartum führt. Die Gleise sind noch warm von der Hitze des Tages, ein paar Meter unter dem Bahndamm ziehen seit Stunden Hunderttausende Demonstranten vorbei, die für einen neuen Sudan protestieren. Viele Frauen sind dabei, manche mit einem weißen Kopftuch, manche mit einer Baseballkappe auf dem Kopf. Sie tragen Transparente gegen die Militärdiktatur oder rezitieren laut revolutionäre Gedichte und Lieder - an denen es nicht mangelt im Sudan, das Land hat eine reiche Tradition der Revolutionen und Aufstände. Nur haben sie die Gesellschaft bisher nicht wirklich vorangebracht.

"Die Männer haben den Wechsel nicht geschafft. Also haben wir uns entschieden, ein Teil des Protests zu sein, einen Teil des Risikos einzugehen, einen Teil der Prügel abzubekommen", sagt Yousef, eine der Mitorganisatorinnen der Demonstrationen. Seit Dezember gehen die Menschen im Sudan zu Hunderttausenden auf die Straße, erst demonstrierten sie gegen die steigenden Brotpreise, aber ziemlich schnell dann gegen das Regime des Diktators Omar al-Baschir. Der hatte in den 30 Jahren an der Macht große Routine darin entwickelt, seine Gegner ins Gefängnis zu werfen oder mit Geld und Posten zu korrumpieren. Nur gegen den Protest der Frauen hat er kein Mittel gefunden.

Geht da nicht hin, haben die Väter den jungen Frauen gesagt, erzählt Yousef. Manche haben es bei Worten belassen, manche haben ihre Töchter so lange geprügelt, bis sie kaum noch laufen konnten. Die Töchter sind trotzdem los marschiert. Yousef, 26, erzählt von einer Frau, die für alle zum Vorbild geworden sei. Eine "Tea Lady", eine jener Zehntausenden, die im Sudan an jeder Ecke sitzen und für ein paar Cents Tee verkaufen, und von vielen Männern wie ein Nichts behandelt wurden. Diese Frau, erzählt Yousef, habe plötzlich ein Regierungsgebäude angezündet. "Da wussten wir, alles ist möglich."

Sie hat Freundinnen und Bekannte, die im Protest durch Tränengasgranaten Arme oder Beine verloren haben. "Weil sie die Granaten zurückgeworfen haben und nicht weggerannt sind wie die Männer", sagt Yousef. Letztlich stand das Regime von al-Baschir vor der Entscheidung, den Protest einfach niederzuschießen. Oder den Diktator zu opfern. Al-Baschir war zu allem bereit, er soll in seinen letzten Tagen zu Vertrauten gesagt haben, der Koran erlaube aus seiner Sicht, ein Drittel oder auch die Hälfte der Bevölkerung zu töten, wenn es erforderlich sei. Die Armeespitze sah es anders und setzte ihn ab.

Der Diktator ist weg, aber das System eigentlich noch dasselbe. "Wir kämpfen weiter für unsere Ziele, wir haben noch nicht alles erreicht", sagt Yousef. "Deep state" nennen die Sudanesen das System, das sie seit Jahrzehnten regiert, eine Mischung aus Militärs, Islamisten und Parteien, die alles dominiert, die wie eine Hydra ist, der immer neue Köpfe wachsen. Millionen Bürger hatten keine Hoffnung auf Besserung und haben das Land verlassen.

"Ich wollte auch ins Ausland gehen", sagt Yousef. Jura hat sie studiert an der University of Khartoum, die in schönen, alten Kolonialgebäuden aus der britischen Zeit entlang des Nils residiert und sich in den vergangenen Jahren immer noch etwas Unabhängigkeit erkämpfen konnte unter dem repressiven Regime. Nach ihrem Examen begann Yousef auch diejenigen zu vertreten, die vom Regime verfolgt wurden. Mit mäßigem Erfolg. "Unser Rechtssystem hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, ich hatte ständig Zweifel, ob ich meinen Klienten überhaupt helfen kann." Sie hat sich nach Stipendien umgeschaut, nimmt an einem Programm der Friedrich-Ebert-Stiftung in Khartum teil, das junge Leute in der Zivilgesellschaft fördert. Für manche der besonders Begabten war das Programm ein gutes Sprungbrett ins Ausland, Yousef sagt, sie habe sich aber zum Bleiben entschieden. Es gebe so viel zu tun.

Als Baschir stürzte, setzte das Militär einfach einen seiner engsten Vertrauten ein, gegen den die Opposition dann auf die Straße ging, nach einem Tag war er wieder weg, genauso ging es dem Geheimdienstchef. Es ist ein zähes Ringen darum, wie der neue Sudan aussehen soll, wer das Sagen hat. An diesem Donnerstag zeigen beide Seiten ihre Macht, die Demonstranten sind zu Hunderttausenden vor das Hauptquartier der Armee gezogen. Ein paar Straßen weiter lässt das Militär einen nicht enden wollenden Zug von Pick-ups vorbeiziehen, die Maschinengewehre auf die Ladefläche montiert haben und Körbe mit Panzerabwehrraketen. Am Sonntag einigen sich Demonstranten und Armee prinzipiell auf die Bildung einer gemeinsamen Übergangsregierung, der angeblich 15 Personen angehören sollen, acht aus der Opposition und sieben aus dem Militär. Es ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem neuen Sudan. Der aber noch ziemlich lang ist.

Dass al-Baschir gehen musste, darüber waren sich fast alle einig, die große Frage ist, was danach kommen soll. Jeder hat so seine Idee. Auf dem Platz und den Straßen vor dem Armeehauptquartier hat sich seit einigen Wochen das Protestzentrum der Opposition eingerichtet, eine eigene revolutionäre Republik, der neue Sudan im kleinen. An seinen Rändern haben die Demonstranten Straßensperren aufgebaut, an denen jeder kontrolliert wird, Männer und Frauen getrennt. Alle paar Meter werden Rucksäcke durchsucht, nach allem, was als Waffe benutzt werden kann. Neben den Sperren liegen in großen Kisten Hunderte Kugelschreiber und ein paar Messer.

Sie wollten verhindern, dass das alte Regime Provokateure schicke, um ihren Protest zu diskreditieren, sagen sie an den Sperren. Meist ist es ein fröhliches Abtasten und Durchsuchen. Manchmal aber trifft man auch auf herrische Halbstarke, die es genießen, nun selber mal ein bisschen Macht zu haben, die Pässe sehen wollen oder Leute abweisen. "Ihr klingt schon fast so wie die, gegen die wir demonstrieren", warnt ein älterer Sudanese. Hinter den Sperren hat sich ein Zeltcamp gebildet, das so etwas ist wie eine Dauerausstellung derer, die unter dem Regime zu leiden hatten, die Opfer al-Baschirs, die nun zum ersten Mal so richtig offen berichten dürfen, was ihnen widerfahren ist in den vergangenen Jahrzehnten. Frauenrechtsorganisationen berichten über häusliche Gewalt, Ärzteverbände über den Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

An einer Ecke hat eine Gruppe aus Darfur einen Stand aufgebaut, eine Region, in der der Völkermord tobte, in der arabische Milizen im Auftrag des Regimes die afrikanischstämmige Bevölkerung verfolgten und zu vernichten versuchten. Sie haben Banner aufgehängt, auf denen die Opfer des Konflikts zu sehen sind, Fotos, die bisher nichts gezeigt werden durften. Ein junger Mann erzählt, wie das war, als die arabischstämmigen Milizen vor fast 15 Jahren in sein Dorf kamen und den Vater ermordeten. "Die Verbrechen wurden nie im ganzen Land bekannt, weil das Regime die Medien manipuliert hat, jetzt ist es Zeit für Gerechtigkeit." Nur einen Stand weiter stehen die Opfer aus den Nuba-Bergen, auch dort ließ das Regime seine Gegner massenhaft hinrichten. Sie alle wollen nun gehört werden - und werden nun auch gehört.

Den ganzen Tag ziehen kleine Gruppen zum Platz des Protestes, die Vereinigung der Lebertransplantierten ist darunter, am Nachmittag hängt dann auch die Sudanesische Bankervereinigung ihre Fahnen auf. Plötzlich wollen alle dabei sein, plötzlich waren alle im Widerstand.

"Früher waren wir vor allem als Frauen mit unserem Protest am Rande der Gesellschaft, nun sind wir plötzlich in der Mitte", sagt Islam Yousef. Ein ganzes Land ist gerade dabei, sich neu zu sortieren, es ist eine Revolution, die bis in die Familien geht. "Mein Vater ist bekennender Islamist. Er hat mir immer wieder gesagt, ich soll nicht auf die Demonstrationen gehen", erzählt Yousef. Wie viele der älteren Männer habe er Angst, dass die Revolution auch den politischen Islam hinwegfegen wird.

Für den Vater ist der Protest der Tochter nichts anderes als "Kommunismus", was im Sudan auch eine Chiffre ist für alle, die gegen die Islamisten sind. Für Freitag hatte sich Yousefs Vater zu einem Gespräch bereit erklärt, nach einem Treffen mit seinen Gefährten der Baschir-Partei, die besprechen wollten, wie es weitergeht. Als er nach Stunden nicht ans Telefon geht, macht sich die Tochter Sorgen, später verschickt sie Facebook-Videos, die zeigen, wie Demonstranten das Treffen der Baschir Partei stürmen, Yousefs Vater soll verhaftet worden sein. Die Revolution der Töchter bringt die Väter ins Gefängnis.

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SZ vom 30.04.2019/mkoh
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