NS-Prozess in Itzehoe:Ruhendes Verfahren

NS-Prozess in Itzehoe: Der Vorsitzende Richter Dominik Groß (Mitte) muss sich einige Vorwürfe der Nebenklageanwälte anhören.

Der Vorsitzende Richter Dominik Groß (Mitte) muss sich einige Vorwürfe der Nebenklageanwälte anhören.

(Foto: Christian Charisius/AFP)

Einige betagte NS-Opfer würden gern im Stutthof-Prozess gegen die ehemalige KZ-Sekretärin aussagen. Doch in den sehr kurzen Verhandlungstagen geht es erst mal um viele andere Dinge.

Von Peter Burghardt, Itzehoe

Sie haben das Grauen erlebt. Sie wollen in diesem Gerichtssaal davon erzählen, sobald sie dürfen. Josef Salomonovic kam 1944 ins KZ Stutthof, wo Irmgard F., damals Irmgard D., als Sekretärin Dienst tat. Er war sechs Jahre alt, sein Vater wurde mit einer Benzolspritze ins Herz ermordet. Henri Zajdenwergier sah bei schwerster Zwangsarbeit, wie Gefangene erhängt wurden. Er ist als einziger französischer Jude aus dem Lager noch am Leben. Oder jene Frau, die von den Leichen beim Todesmarsch berichten könnte. "Diese Zeugen stehen zur Verfügung", sagt ihr Anwalt Christoph Rückel, der kurz Auszüge ihrer Zeugnisse vorträgt. Aber wann sind die Zeugen selbst an der Reihe?

Der Dienstag, Tag vier im Prozess gegen Irmgard F., 96, das Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein tagt in einer Fabrikhalle. Genau genommen ist es Tag drei, denn vor dem ersten Termin Ende September war die Seniorin ja für ein paar Stunden geflüchtet, worauf der Start um eine Woche verschoben werden musste. Der Frau wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11 000 Fällen vorgeworfen, sie arbeitete von 1943 bis 1945 als Stenotypistin für den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe. Es gibt in diesem Fall so viel zu besprechen, doch alles dauert furchtbar lang. Auch die Staatsanwältin findet es "außerordentlich schade, dass wir nicht weiterkommen in diesem Verfahren".

Anreise und Aussage bedürfen der Vorbereitung

Schon die Ermittlungen zogen sich mehr als vier Jahre in die Länge, jetzt werden die Sitzungen immer wieder auseinandergerissen. Der Vorsitzende Richter Dominik Groß leitet sie spitzfindig und bürokratisch, das halten nicht nur Vertreter der Nebenkläger für unangemessen. Anwalt Rückel regt an, die Aussagen der Betroffenen vorzuziehen. "Diese Zeugen sind Zeitzeugen", erinnert er das Itzehoer Landgericht, "alle in fortgeschrittenem Lebensalter." Dies könnte ihre letzte Möglichkeit sein, den Horror vor einem Gericht zu schildern. Viele NS-Prozesse wird es ohnehin nicht mehr geben.

Zwei seiner fünf Mandantinnen und Mandanten könnten anreisen und eine über Video sprechen, sagt Rückel. Zwei andere seien nicht mehr in der Lage, die deutsche Justiz habe viele Jahre verloren. Bisher ist unklar, wann und wie wer in der Verhandlung gegen Irmgard F. zu Wort kommt. Dabei bedürfen solche Auftritte alter und traumatisierter Menschen aus teilweise fernen Ländern der Vorbereitung. Auch über einen Antrag zum Besuch der KZ-Gedenkstätte Stutthof in Polen hat das Gericht noch nicht entschieden.

Der Opferanwalt Hans-Jürgen Förster erkennt "keine souveräne Verhandlungsführung, wie sie für ein Verfahren mit diesem Inhalt notwendig wäre". Dies ist Zeitgeschichte, unter den Zuschauern sitzen neben Reportern und weiteren Interessenten diesmal Schülerinnen und Schüler. Ein Anwalt erklärt ihnen, worum es in diesem Fall geht: Auch eine Schreibkraft im KZ könne "ein kleines Rädchen" gewesen sein. "Ganz viele haben mitgemacht."

Momentan referiert ein Historiker über das KZ-System

Irmgard F. sitzt im Rollstuhl, wegen der Kameras erst mit Sonnenbrille, begleitet von einer medizinischen Betreuerin, zwei Verteidigern und einem Vertreter der Jugendgerichtshilfe. Verhandelt wird wegen ihres seinerzeit jungen Alters nach Jugendstrafrecht. Am Anfang, als der Richter hereinkommt, steht sie kurz auf. Später fragt sie der Richter einmal, ob sie noch wach sei. Länger als je gut zwei Stunden mit Pausen alle ein bis zwei Wochen muss die Beschuldigte nicht durchhalten.

Der Historiker Stefan Hördler erklärt seit der zweiten Sitzung die KZ-Strukturen, auf den Bildschirmen im Gerichtsraum sind Bilder und Dokumente aus Stutthof und den Nazi-Zentralen zu sehen. Noch befasst sich der Sachverständige nicht mit der konkreten Rolle der zivilen Angestellten F. Aber es wird schon klar, dass von der Sekretärin eines KZ-Kommandanten mehr Aufmerksamkeit erwartet wurde als stupide Schreibarbeit, auch wenn sie anders als die SS-Leute keine Uniform trug.

Irgendwann in den kommenden Wochen soll dann von den oder über die Menschen zu hören sein, die das Leid am eigenen Leib erfahren haben. Zu den Nebenklägern gehört auch ein Mann aus Israel, der im Stutthofer Krematorium schuften musste. Er habe, sagt sein Anwalt Förster, "die Hölle von innen gesehen".

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