Süddeutsche Zeitung

Stuttgarter OB-Kandidat Fritz Kuhn:Letzte Chance für den Realo-Vordenker

Fritz Kuhn kam aus dem Kreisverband Tübingen, er bastelte an einer "Volkspartei neuen Typs". Joschka Fischer kürte ihn zu seinem Erbprinzen. Das wurde er nicht. Jetzt greift der Grünen-Politiker nach der Macht im Mikrokosmos - dem Amt des Oberbürgermeisters in Stuttgart.

Roman Deininger, Stuttgart

Auf dem Stuttgarter Schlossplatz spricht Fritz Kuhn mit einem Eisbären. Der Eisbär sagt: "Warum sollte ich als Eisbär Sie wählen?" Kuhn erläutert dann sehr ernsthaft, dass der Schutz der Arktis in Stuttgart beginnt. Energie sparen, Abgase mindern. "Das ist schon mal sehr spannend", sagt der Eisbär. Dazu nickt der Greenpeace-Mann im Fellkostüm so eifrig, dass ihm fast die Maske vom Kopf fällt.

Fritz Kuhn will Oberbürgermeister von Stuttgart werden, es ist nicht irgendeine Wahl am 7. Oktober. Ja, die Grünen regieren in Deutschland einige Großstädte. Aber eine Landesmetropole mit 600.000 Einwohnern, die haben sie noch nie regiert. Seit eineinhalb Jahren ist Winfried Kretschmann Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Wenn Kuhn jetzt auch noch OB wird, werden alle sagen: Den Grünen gehört das ganze Land.

Und die Chance ist da, in Stuttgart gibt es ein Öko-Bürgertum, das mit dem Porsche Cayenne zum Bio-Laden fährt. Im Gemeinderat sind die Grünen schon stärkste Kraft. Aber diese Chance muss Kuhn erst mal nutzen: Muss den berufsgemäß smarten Werbeunternehmer Sebastian Turner besiegen, den parteilosen Kandidaten, der auf dem Schild von CDU, FDP und Freien Wählern den leichteren Weg zu einer Mehrheit hat.

Kuhn braucht dafür jede Stimme. Er braucht die Sozialdemokraten, deren beherzte Bewerberin Bettina Wilhelm er im ersten Wahlgang erst mal hinter sich lassen muss. Er braucht auch ein paar jener Cayenne-Fahrer, die Bio für einen Talkmaster halten. Er braucht zumindest einen Teil der Stuttgart-21-Gegner, die sich nach der Volksabstimmung zugunsten des Tiefbahnhofs enttäuscht von den Grünen abgewandt haben. Es ist so knapp, dass Kuhn sogar jeden Eisbären braucht.

Selbstbewusstsein, das für fünf Fernsehstudios gereicht hätte

Angela Merkel wird mit Turner auftreten, Hannelore Kraft mit Wilhelm, Kretschmann mit Kuhn, seinem alten Weggefährten aus dem Landtag. Es ist nicht irgendeine Wahl, und Stuttgart ist nicht irgendeine Stadt: Im Streit um den Bahnhof ist eine der reichsten Kommunen der Republik zur Hauptstadt des Zorns geworden. Der neue OB hat es mit in der Hand, wie groß die Narben sind, die bleiben. Und Fritz Kuhn, der ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen, ihr Fraktionschef im Bundestag? Ist natürlich nicht irgendein Kandidat.

Das vielleicht beste Bild dieses Politikers ist ein Film, ein alter Youtube-Clip aus einer Zeit, in der sich die Schwarzen nur widerwillig dazu herabließen, mit Grünen an einem Tisch zu sitzen. Es war im Landtagswahlkampf 1984, Elefantenrunde im SWR. Der grüne Elefant ist ein schmaler junger Mann von 29 Jahren, immerhin 24 Jahre älter als seine Partei. "Wer sind Sie eigentlich?", blafft ihn der Moderator an. "Wer hat Sie hergeschickt?"

Der Kreisverband Tübingen, sagt Fritz Kuhn, er antwortet dem Moderator so kühl wie drei Jahrzehnte später dem Eisbären. Dann fällt Kuhn mit scharfer Stimme und noch schärferen Argumenten über Lothar Späth her, den Ministerpräsidenten von der CDU. Schon damals hatte er ein Selbstbewusstsein, das für fünf Fernsehstudios gereicht hätte. Und es ist nicht weniger geworden seither.

Kuhn zog in den Landtag ein, wurde Fraktionschef. Zu seinem Selbstbewusstsein gehörte es, dass er regieren wollte, auch wenn das für andere Grüne noch ein Schimpfwort war. "Vordenker des Realo-Flügels" nannte ihn eine Zeitung 1986, das ist er geblieben. In der grünen Bauchpartei kam er schon immer vom Kopf. In unzähligen Konzeptpapieren bastelte er an einer "Volkspartei neuen Typs". Er hat die Grünen früh auf die Schiene gesetzt, auf der sie viel später in Baden-Württemberg an die Macht gefahren sind. Jetzt will Kuhn, der seine Papiere lange für andere schrieb, ein Stück von der Macht für sich selbst.

An einem Spätsommernachmittag sitzt er in der Stadtbahn, die so etwas ist wie sein Wahlkampfbus. Sein Konzept, sagt er, sei gleich geblieben in all den Jahren: Ökonomie und Ökologie versöhnen, "mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben". Aber wollen das Turner und Wilhelm nicht auch? Kuhn sagt: "Die Leute werden das Original wählen." Von Wilhelm spricht das Original möglichst wenig, über Turner sagt er: "Ich bin bekannter als er.Ich habe keine Werbegags nötig." Mehr als zwanzig Podiumsdiskussionen haben die Kandidaten bisher gemeinsam bestritten. Schätzen gelernt haben sie sich dabei nicht.

Kuhn wird in diesen Tagen oft gefragt, warum er sich das antut, ob einem, der ein Spieler war im ganz großen Spiel, das Lokale nicht doch zu klein ist. Er hat sich einen schönen Satz zurechtgelegt für solche Gelegenheiten, so wie er meistens einen schönen Satz parat hat: "Eine Stadt ist ein Mikrokosmos, in dem sich die ganze Welt zeigt." Ein Stück weit zeigt sich in Kuhns Kandidatur aber auch, dass sich für den ewigen grünen Hoffnungsträger nicht alle Hoffnungen erfüllt haben. "Das erbt alles der Fritz", soll Joschka Fischer einmal über seinen grünen Laden gesagt haben. Kuhn hat den Nachlass dann mitverwaltet, aber der eine Erbe - das war er nicht.

Der Realo Kuhn hat oft mit seiner Partei gehadert, und sie mit ihm. Einst hat er eine Arbeitsgruppe eingeführt, die grüne Forderungen auf ihre Machbarkeit überprüfte. Sein intellektuelles Vermögen hat er nie versteckt. Wenn er seine Sätze mit einem gedehnten "Also" beginnt, dann klingt das auch jetzt in den OB-Debatten manchmal wie: Dann erkläre ich Ihnen halt im Folgenden, warum Sie völlig danebenliegen. Eine Weile hat Kuhn ein schwäbisches "Traumpaar" mit Rezzo Schlauch gebildet, man nannte sie Asterix und Obelix. Wie die meisten Kinder mochten auch die Grünen Obelix irgendwie lieber. 1996 hätte es für Schlauch beinahe zum OB gelangt, Kuhn hatte sich einen netten Wahlslogan für ihn ausgedacht: "Zwei Zentner für Stuttgart".

Der Stratege Kuhn war in seiner Karriere schon ein paar Mal in der Gefahr, auf einer Hinterbank verschüttzugehen. Aber immer, wenn er keinen Job hatte, der seinem Anspruch und seinem Talent genügte, hat er einfach ein paar Strippen gezogen und gewartet, bis er wieder gerufen wurde. Das Warten hat sich zumeist gelohnt. Jetzt ist er 57, das Warten ist kein Konzept mehr in diesem Alter. OB werden in Stuttgart - das ist vielleicht die letzte Hoffnung des Hoffnungsträgers, seinem Anspruch und Talent gerecht zu werden.

Wenn Kuhn nervös sein sollte deshalb, merkt man ihm das nicht an. Er weiß, dass es nicht zu seinem Talent gehört, die Herzen der Menschen im Sturm zu erobern, wie das sein Kumpel Obelix mit einem kräftigen Spruch und einer noch kräftigeren Umarmung könnte. Er wirbt ruhig für sich, für seine Erfahrung, für die grünen Ideen und die schwarzen Zahlen. Er kontrolliert sein inneres Beben, wenn Hannes Rockenbauch, der Kandidat der Bahnhofsgegner, mal wieder darlegt, wie er Stuttgart 21 doch noch zu stoppen gedenkt. Er sagt dann: "Zum Versprechen gehört nicht nur, dass man etwas will, sondern auch, dass man es kann."

Er wendet den Blick nicht ab, wenn ihn Hunderte Menschen dafür auspfeifen. Er geht zu den Rotariern ins Hotel Le Meridien und erklärt ihnen, dass es gut wäre, wenn mehr von ihnen mit der S-Bahn oder dem Rad zu den Clubtreffen kämen. Am Ende klatschen die Rotarier freundlich. Und Fritz Kuhn findet, dass sein langer Weg ins Rathaus wieder ein kleines bisschen kürzer geworden ist.

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SZ vom 26.09.2012/fran
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