Stuttgart 21: Schlichter schlägt Kombi-Bahnhof vor:Der falsche Frieden des Heiner Geißler

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"Geißler ahnt nicht, was er da angerichtet hat": Alle Beteiligten zeigen sich nach dem Kompromissvorschlag des Schlichters irritiert. Bundesverkehrsminister Ramsauer verspottet ihn als "uralten" Gedanken, und die Bahn vergibt trotzdem Aufträge. Das Konzept erweist sich in der Tat als komplex - und würde das Projekt um Jahre zurückwerfen. Letztlich hilft Geißlers Idee wohl nur einem: Heiner Geißler.

Michael König, Stuttgart

Es war einer der besseren Tage von Winfried Hermann als Landesverkehrsminister, vielleicht der beste. Zum souveränen Auftritt des Grünen-Politikers bei der Präsentation der Stresstest-Ergebnisse von Stuttgart 21 gehörte, wie er den Schlichter für dessen monatelanger Arbeit massiv lobte: "Heiner Geißler wäre ohnehin in die Geschichte eingegangen. Aber jetzt tut er es erst recht. Denn er hat einen neuen Maßstab gesetzt."

Sind wir nicht alle Heiner Geißler? Gegner von Stuttgart 21 demonstrieren gegen die Deutung des Stresstest-Gutachtens. (Foto: dpa)

Worin dieser Maßstab besteht, darüber herrschte nach dem zehnstündigen Sitzungsmarathon im vierten Stock des Stuttgarter Rathauses allerdings Uneinigkeit. In punkto kreativer Konfliktlösung? Oder doch eher im Abbrennen einer Nebelkerze, die an der vertrackten Situation nichts ändert und vor allem dem Schlichter nützt? Die ersten Reaktionen sprechen für letzteres.

Völlig überraschend hatte der einstige CDU-Generalsekretär ein Papier mit dem selbstbewussten Titel "Frieden für Stuttgart" vorgelegt - und die Schlichtung zu einem vermeintlichen Ergebnis geführt, das sich aber eher als neuer Ausgangspunkt für viele heftige Debatten erweisen dürfte. Der Inhalt: ein Konzept für einen kombinierten Tief- und Kopfbahnhof, ausgearbeitet von Geißler und den Stresstest-Gutachtern der Schweizer Firma SMA. Vom Modell her angelehnt an den Bahnhof in Zürich. Und angeblich billiger, umweltverträglicher und kundenfreundlicher als der reine Tiefbahnhof S21.

Während sich die Journalisten im Saal um die ausgeteilten Papiere zankten und Eilmeldungen über den Ticker schickten, hielt sich die Euphorie bei den Konfliktparteien arg in Grenzen. Der Kombi-Bahnhof sei nichts neues, sondern eine "uralte Variante, die vor vielen Jahren schon einmal verworfen wurde", sagte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer im Interview mit der Passauer Neuen Presse.

Volker Kefer, Technik-Vorstand der Bahn, betonte, S21 habe den Stresstest bestanden und der Konzern werde "jetzt ganz normal in unserem Projekt weitermachen". Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bestätigte er, dass die Bahn am Samstag Bauaufträge im Gesamtwert von 700 Millionen Euro vergeben habe. Damit seien 25 Prozent des Gesamtbauvolumens von Stuttgart 21 vergeben.

Frieden, welcher Frieden?

Die Gegner des Tiefbahnhofs forderten reflexartig einen Bau- und Vergabestopp für S21 - andernfalls brauche man über den Kompromissvorschlag gar nicht diskutieren. Als Geißler das als "indiskutabel" zurückwies, verließen Teile des Aktionsbündnisses die Sitzung. Daraufhin argwöhnte die Pro-S21-Fraktion, die Gegner wollten nur Zeit schinden und die Kosten in die Höhe treiben. Pfarrer Johannes Bräuchle von der Befürworter-Inititative "Wir sind Stuttgart" hielt ungerührt eine Rede, die auf die aktuellen Ereignisse in keinem Wort einging. Ebenso CDU-Fraktionschef Peter Hauk: "Das Ergebnis des Stresstests war eindeutig. S21 kann gebaut werden", sagte er. Auf den Plätzen der Gegner fasste sich daraufhin manch einer theatralisch an den Kopf.

Kurzum: Von dem versprochenen "Frieden" war in den Minuten und Stunden nach dem Kompromissvorschlag nichts zu spüren. Es hatte eher den Anschein, als habe Geißler den Streithähnen neue Munition geliefert. Hinter vorgehaltener Hand sagte ein Sitzungsteilnehmer mit unheilvollem Ton in der Stimme: "Geißler ahnt gar nicht, was er da angerichtet hat."

Tatsächlich erweist sich der Kombi-Bahnhof bei näherem Hinsehen als gut gemeinte, aber technisch nicht minder schwierige Variante, die ebenfalls ein hohes Konfliktpotential liefert. Das auch als "Züricher Modell" bekannte Konzept hat halb so viele unterirdische Gleise wie S21 (vier statt acht), der bestehende Kopfbahnhof soll von aktuell 16 auf zehn oder zwölf Gleise zurückgebaut werden. Die Kosten werden mit 2,5 bis drei Milliarden Euro angegeben (statt 4,1 bei S21), die Zahl der "unterirdischen Verzweigungsbauwerke" sinkt von zwölf auf vier.

Der Südflügel könne bestehen bleiben, es würden weniger Parkflächen beansprucht und das heutige Bahnhofsgebäude behalte seine Funktionen. So steht es im 16-seitigen Konzeptpapier. Die Probleme werden weiter hinten aufgeführt.

Der Zeitbedarf? "Noch nicht abschätzbar", schreiben die Autoren. Die Kostenaufteilung? Sei "neu zu regeln". Als nächstes gelte es, "Bauplanungen, Bauverfahren und die damit ausgelösten Investitionskosten neu zu berechnen".

Das ist eine Menge Arbeit. "Das wirft uns 15 Jahre zurück", hieß es in Bahnkreisen. Auch der ehemalige S21-Projektsprecher Wolfgang Drexler von der SPD winkte ab: Die Idee habe "kaum Realisierungschancen", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Die von den Gegnern befürchteten Probleme etwa beim Tunnelbau und beim Grundwasser blieben gleich.

Nicht einmal die Landesregierung war kurzfristig für das Projekt zu erwärmen. Zwar gab sich Landesverkehrsminister Hermann, der nach vielen unglücklichen Auftritten zu Beginn seiner Amtszeit an diesem Freitag äußerst umsichtig und diplomatisch agierte, offen für Geißlers Vorstoß: Er wolle ihn "ernsthaft prüfen".

Aber die Grünen regieren das Land nicht allein, und Staatssekretär Ingo Rust machte deutlich, was die SPD davon hält: "Für unsere Seite kann ich nicht in Aussicht stellen, dass wir dem zustimmen." Ein CDU-Politiker spöttelte später im Vorraum des Sitzungssaals: "Sollen Sie die Volksabstimmung doch um die Geißler-Variante erweitern. Das wird sicher ein Spaß."

Dem Schlichter waren diese Debatten sichtlich egal. Mit zufriedener Miene schlurfte Heiner Geißler nach getaner Arbeit aus dem Sitzungssaal in sein Büro. Er habe sich "verpflichtet gefühlt, alle Beteiligten zu bitten, die Chancen einer Friedenslösung zu prüfen", hatte er gesagt. Nach dem Motto: Ich hab's ja versucht. Und wenn jetzt keine Einigung kommt, war das nicht meine Schuld.

Zudem war Geißler, der während der Sitzung mehrfach auf das große Publikumsinteresse an seiner Arbeit hingewiesen hatte, unbestritten der größtmögliche Coup gelungen. Er habe das Bundeskanzleramt, die Bundesregierung und auch den Ministerpräsidenten vorab informiert, erwähnte der Schlichter beinahe beiläufig. Für die Mehrheit der Sitzungsteilnehmer aber war seine Ankündigung eine große Überraschung. "Es war ein klassischer Geißler", sagte Bahn-Vorstand Kefer mit Bewunderung in der Stimme. "Ich war völlig verblüfft."

Tatsächlich hätte die Dramaturgie kaum effekthascherischer sein können: Knapp acht Stunden hatte Geißler mit angesehen, wie sich Gegner und Befürworter wegen der Stresstest-Ergebnisse von S21 beharkten.

Er befeuerte die zum Teil kindisch anmutende Debatte sogar noch, als er vorschlug, das Urteil der Züricher SMA-Gutachter ("wirtschaftlich optimale Betriebsqualität" = zufriedenstellend) kurzerhand umzudeuten. Zunächst brachte er die Bewertung "mangelhaft" ins Spiel, später jedoch fragte er, ob man nicht doch von "Premiumqualität" (= Bestnote) reden könne, wie es die Gegner gefordert hatten. . Die Schweizer seien nun mal bescheidene Leute, sagte Geißler mit einem Augenzwinkern.

Den Vertretern des Aktionsbündnisses reagierten erbost, die Schlichtung schien endgültig gescheitert. Und damit auch Heiner Geißlers Mission. Hannes Rockenbauch, der junge Stuttgarter Stadtrat, der schon in den Stunden zuvor heftig mit Geißler aneinander geraten war, nahm seine Tasche und Jacke und stürmte demonstrativ aus dem Saal. Um 17.51 Uhr öffnete er die Tür, das Blitzlichtgewitter der draußen wartenden Fotografen drang in den Saal.

In diesem Moment sagte Geißler: "Nun warten sie mal, ich habe da noch einen Vorschlag."

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