Stuttgart 21:Schlichten heißt richten

Vertrackte Vermittleraufgabe: Heiner Geißlers Mission beim Stuttgarter Bahnhofsneubau kann nur gelingen, wenn auch das Vertrauen in die Institutionen repariert wird.

Heribert Prantl

Die Größe von Demonstrationen ist noch kein Beweis für die Richtigkeit der Anliegen, die dort verfochten werden. Die Größe ist aber ein Indiz für ein gewaltiges gesellschaftliches Unbehagen. Das gilt für beide Demonstrationen vom Wochenende - für die in München gegen die Atomkraft und erst recht für die in Stuttgart gegen Stuttgart 21. Zumal der weiter anschwellende Protest gegen Stuttgart 21 ist nicht nur ein Protest gegen ein umstrittenes Projekt; er demonstriert zugleich die Erosion des Institutionellen; der Loyalitätspuffer, den eine Demokratie braucht, wird immer kleiner.

Geissler gibt Baustopp fuer 'Stuttgart 21' bekannt

Muss Vertrauen wieder herstellen: Schlichter Heiner Geißler.

(Foto: dapd)

Stuttgart 21: Die langen Planfeststellungsverfahren waren nicht in der Lage, die Bürger davon zu überzeugen, dass alle Interessen wohl abgewogen worden sind. Die Legitimation durch Verfahren stellt sich nicht ein, weil eine Vielzahl von Bürgern dem Verfahren nicht traut. Ohne ein solches Grundvertrauen in die Verfahren der Staatsgewalten funktioniert aber eine Demokratie nicht. Die "Schlichtung", die diese Woche beginnen und von Heiner Geißler geleitet werden soll, muss erst die Bereitschaft der beiden Seiten wieder herstellen, einander zuzuhören und sich den Argumenten des Anderen nicht zu verschließen.

Die Schlichtung hat somit drei Aufgaben. Sie muss erstens die Beteiligten wieder hör- und sprechfähig machen. Sie soll zweitens eine verträgliche Lösung für das umstrittene Mega-Projekt finden. Drittens ist sie der Versuch, mit einem außergewöhnlichen, in keinem Gesetz vorgesehenen Verfahren das Vertrauen in die gewöhnlichen, im Gesetz vorgesehenen Verfahren wieder zu schaffen.

Dieser Versuch kann nur gelingen, wenn der Schlichter das verlorengegangene Vertrauen in die Regierungsinstitutionen vorübergehend in seiner Person ersetzen kann. Es muss also dem Ministerpräsidenten Stefan Mappus, der Geißler als Schlichter vorgeschlagen hat, daran gelegen sein, dessen Akzeptanz bei den Gegnern des Projekts zu stärken.

Geißlers Forderung, die Baumaßnahmen während der Verhandlungen einzustellen, zeigt, dass er weiß, was diejenigen ihm schulden, die ihn gerufen haben: Wenn sich die politischen Institutionen in einer Art Organleihe Autorität borgen, dann müssen sie auch dafür sorgen, dass das Schlichtungsorgan Autorität hat.

In Stuttgart geht es um einen Fall der Störung der Geschäftsgrundlage. Die Stuttgart-21-Gegner behaupten, die Umstände, auf denen das Projekt und dessen Genehmigung fußen, hätten sich verändert, die ursprünglichen Vorstellungen über Kosten und Nutzen als falsch herausgestellt. Im Bürgerlichen Recht muss, wenn das so ist, der Vertrag angepasst werden; so steht es in Paragraph 313 BGB. Im öffentlichen Recht und in der Politik ist das so ähnlich. Wenn das Projekt, würde es heute angepackt, ganz anders geplant würde, dann muss es verändert oder gar rückabgewickelt werden. Der Schlichter kann die Instanz sein, welche dies feststellt und eine Veränderung des Projekts in die Wege leitet.

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