Süddeutsche Zeitung

Stuttgart:Rätselhafter Gewaltausbruch

Ein Vierteljahr nach der Krawallnacht sind die Motive der Täter noch unklar.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

Drei Monate nach der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht hat die Polizei zwar 93 Tatverdächtige identifiziert, doch die Aufarbeitung der Ereignisse ist noch lange nicht abgeschlossen. "Es gibt nicht diese monokausale Erklärung", sagte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU), als er am Dienstag über die bisher gewonnenen Kenntnisse informierte. "Die Ermittlungen gehen selbstverständlich weiter."

In der Nacht auf den 21. Juni hatten sich nach einer Polizeikontrolle im Oberen Schlossgarten mehrere Gruppen junger Männer gegen die Einsatzkräfte gestellt und Polizisten angegriffen. Anschließend haben sie Streifenwagen beschädigt, Schaufenster in einigen Geschäften der Innenstadt eingeschlagen und auch Personen verletzt. Laut Polizei ist in dieser Nacht ein Schaden in Höhe von 360 000 Euro an Geschäften und Werbesäulen entstanden. Den Schaden an Polizeifahrzeugen und Ausrüstung beziffert sie auf weitere 100 000 Euro. Außerdem seien 32 Polizeibeamte verletzt worden.

Die Ermittlungen haben bestätigt, was die Polizei schon am Tag nach der Krawallnacht vermutete: Die Gewalttaten waren nicht geplant. Es sei vielmehr davon auszugehen, "dass diese Straftaten spontan, unter dem Eindruck der Geschehnisse erfolgten und durch gruppendynamische Effekte verstärkt wurden", so Strobl.

Weil die AfD die Vorfälle als Zeichen eines Staatsversagens interpretieren wollte, hatte sich im Juni sogar der Bundestag mit Stuttgart beschäftigen müssen. Damals hatte es noch geheißen, mehrere Hundert junge Männer hätten sich an der Randale beteiligt. Inzwischen ist klar, dass die Zahl deutlich geringer war. Strobl betonte am Dienstag wohl auch vor diesem Hintergrund, wie gut der Rechtsstaat funktioniere. "Niemand, der an diesen Krawallen und Plünderungen beteiligt war, kann sich in Sicherheit wiegen." Die intensive Ermittlungsarbeit habe sich ausgezahlt. Mehr als 100 Mitarbeiter waren zusammengezogen worden, um Tatverdächtige zu finden.

Im Juni war viel darüber diskutiert worden, ob die Tatverdächtigen einen Migrationshintergrund haben, und inwiefern das relevant sein könnte. Hier konnte Strobl nur bedingt aufklären. "Es gibt nicht den Tatverdächtigen", sagte er. "Das ist einfach absolut heterogen." Das Spektrum reiche vom 13-jährigen syrischen Flüchtling bis zum 29-jährigen Deutschen mit abgeschlossener Ausbildung. Die einzige Gemeinsamkeit sei: männlich und jung. 28 Tatverdächtige gelten als Jugendliche, einer als Kind.

Einige Tatverdächtige stammen aus dem bürgerlichen Milieu

30 Tatverdächtige sind Ausländer, die aus mindestens 17 Ländern kommen. Von den 63 Deutschen haben laut Strobl gut 70 Prozent einen Migrationshintergrund, wobei der Minister diese Angabe nicht präzisierte. Bekannt ist, dass die Polizei sich (anders als das städtische Statistikamt) an der Definition des Statistischen Bundesamts orientiert: Demnach wird auch Erwachsenen noch ein Migrationshintergrund zugeordnet, wenn deren Mutter oder Vater in einem anderen Land geboren wurden. Da Stuttgart seit Jahrzehnten eine Einwanderungsstadt ist, dürfte nach dieser Lesart die Bevölkerung etwa einen 70-prozentigen Migrationsanteil haben.

Ob man aus all diesen Zahlen eine Erklärung ableiten kann, da ist sich Strobl noch unschlüssig. "Das hat sicher auch was mit Integrationsdefiziten zu tun, und das hat sicherlich auch was mit sozialen Verhältnissen zu tun. Aber nicht nur." Es seien auch Tatverdächtige aus dem bürgerlichen Milieu dabei. Es sei jedoch "ganz offensichtlich, dass einige nicht in Deutschland angekommen sind. Jedenfalls sind sie mit den Regeln, die es bei uns gibt, nicht vertraut." Auffällig ist, dass 72 Prozent der Tatverdächtigen schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Strobl äußerte daher die Ansicht, dass man die Krawalle, die es später auch in anderen Städten gab, nicht damit erklären könne, dass Bars und Clubs wegen Corona geschlossen hatten und junge Menschen ein Ventil gesucht hätten. Vielleicht werden sich die Motive erst vor Gericht herausstellen: Gegen fünf Tatverdächtige wurde bereits Anklage erhoben.

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SZ vom 23.09.2020
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