Stuttgart 21 nach der Wahl: Mögliche Exit-Strategien:Bevor alles zu spät ist

Einmal an der Macht, muss es in einer Demokratie möglich sein, dass die einst überstimmte Minderheit eine in ihren Augen falsche Entscheidung revidieren kann. Die Beispiele Libyen-Krieg, Atomenergie und Stuttgart 21 zeigen, wie aktuell und wichtig die Diskussion über Exit-Strategien ist.

Andreas Zielcke

Als Theseus, der athenische Held, sich aufmachte, um Minotaurus in dem Labyrinth aufzuspüren und zu töten, überließ ihm Ariadne das Fadenknäuel. Und Dädalus, der Erbauer des Labyrinths, erklärte ihm, wie er das Knäuel beim Gang durch die Irrgänge entrollen müsse, damit er nach seinem Sieg über den Stiermenschen ins Freie zurückfindet. Es ist wohl die erste ausformulierte Fassung einer Exit-Strategie.

Geissler fordert Volksabstimmung ueber Atomausstieg

Das Thema Atomkraft bewegte die Wähler in Baden-Württemberg sehr, was sich auch an der gestiegenen Wahlbeteiligung zeigte. 

(Foto: dapd)

In diesen Tagen wären viele froh, sie hätten Ariadnes Faden in der Hand. Nicht nur beim Libyen-Einsatz, dem Kritiker das Fehlen eines Beendigungsszenarios vorwerfen. Auffällig sind vielmehr innerdeutsche Koinzidenzen auf zivilem Gebiet. Auch wenn ihnen die gestrige Wahl in Wahl in Baden-Württemberg fürs erste eine eigene Wende gegeben hat, bewegen sie die Gemüter hierzulande mindestens ebenso stark.

Vor allem der seit Fukushima heftiger denn je umstrittene Ausstieg aus der Nukleartechnologie, aber auch die bis zuletzt so polarisierende Streitfrage um Stuttgart 21. Diese bezog ihre Konfliktenergie ja stets auch aus der im Raum stehenden Option, noch im letzten Moment das Steuer herumzureißen und das Projekt aufzugeben, so dramatisch wie dies nach dem jahrelangen Vorlauf und allen bindenden Beschlüssen auch wäre.

In all den Fällen erlaubt erst der Blick von einer Exit-Strategie her, die Rationalität der Vorhaben mit all ihren Unwägbarkeiten umfassend zu beurteilen. In der Wirtschaft gehören solche Strategien, etwa bei Fusionen, riskanten Investitionen oder Spekulationen, zum Arsenal der Planungsinstrumente.

Bei militärischen Interventionen aber und insbesondere bei zivilen Großprojekten ist die Logik des Ausstiegs noch völlig unausgereift, wenn sie denn überhaupt von Anfang an mitbedacht wird. Wie gleich zu zeigen ist, rührt sie zugleich an eine Grundfrage der Demokratie, nämlich die Mehrheitsentscheidung. Und nicht zuletzt betrifft sie, dazu aber nur eine Anmerkung am Ende, auf irritierende Weise die Motivationslage der schöpferischen Moderne.

Als Paradefall, ein Unternehmen von seinem gewollten oder möglichen Ende her zu denken, gilt die Militärstrategie. So lautet darum auch die Klage von amerikanischen und europäischen Politikern und Kommentatoren gleichermaßen, dass das angestrebte Ziel der Libyen-Intervention nicht geklärt wurde. So evident richtig, wie diese Forderung an die Planung eines Kampfeinsatzes ist, so historisch jung ist dennoch das Verständnis, das wir heute damit verbinden.

Das hat seine zeitgeschichtliche Quellen vor allem in den Erfahrungen seit dem Vietnamkrieg, als die Öffentlichkeit lernte, welche verheerende Eigendynamik eine Intervention entfalten kann, die über keine vernünftige Exit-Strategie verfügt. Die desaströsen Jahre im Irak nach dem Sieg über Saddam schließlich lieferten die prägende Parole: Es nützt nichts, im Krieg zu obsiegen, wenn man nicht fähig ist, auch den anschließenden Frieden zu gewinnen.

Die Besonderheit der humanitären Intervention

Doch entscheidend für das heutige anspruchsvolle Exit-Denken ist der Entwicklungssprung zur humanitären Intervention. Denn diese ist es, die nicht nur eine neue konstruktive Militärlogik erzwingt, sondern eine neue Verantwortlichkeit für das Land mit sich bringt, dem man mit Waffengewalt zu Hilfe eilt.

Seither richtet sich an den "Sieger" (dieser Begriff trifft die neue Rolle allerdings nicht mehr) die Frage nach der "Exit-Strategie" mit einer rechenschaftsfordernden Dringlichkeit. Mit welchem Ergebnis willst du den Einsatz beenden? Kennst du deine Pflicht zur post-interventionistischen Nachsorge für das Land, für dessen bedrohte Zivilisten du intervenierst? Behielten traditionelle Invasoren nur ihr Eroberungs- und Machtinteresse im Auge, impliziert die humanitäre Intervention, den Schutzgedanken über die militärische Hilfe hinaus auf den folgenden, stets erst noch gefährdeten Frieden auszudehnen.

Gefährdet ist oft natürlich nicht nur der interne Frieden des heimgesuchten Landes, sondern auch die regionale oder gar geopolitische Stabilität. Je höher man aber die Anforderungen an die vorausschauende Planung schraubt, desto schwerer fallen Entscheidungen über humanitäre Einsätze. Das trägt zwar dazu bei, blauäugige Interventionen zu verhindern. Trotzdem gibt es für das Dilemma der verantwortlichen Exit-Strategie noch keine völkerrechtlichen Regeln.

Entscheidungen unter Zeitdruck

Das gilt erst recht für den Fall wie in Libyen, wo über die Intervention unter hohem Zeitdruck zu entscheiden war, zumal man für die internationale politische Willensbildung schon so viel Zeit verloren hatte. Für solche akuten Fälle wird man darum Konzepte nachholender Exit- und Nachsorge-Strategien ausarbeiten müssen.

Einen ähnlichen Zeitdruck kennen zivile Projekte, bei denen der Ausstieg auf die Tagesordnung kommt, sehr selten. Selbst die Beendigung der Atomenergieversorgung, das wissen auch ihre Gegner, die jetzt das Abschalten der deutschen Meiler verlangen, ist ein komplexer und langwieriger Prozess.

Aber das Problem ziviler Exit-Strategien ist ohnehin tiefer angelegt. Letztlich geht es um den demokratischen Entscheidungsmodus. Wie lösen sich Demokratien von großflächig installierten Infrastrukturen, deren Risiken sie nicht mehr tragen wollen wie bei der Atomenergie? Und wie gehen sie mit Großprojekten um, die mit Mehrheitsentscheidung beschlossen und durchgesetzt wurden, wenn die überstimmte Minderheit mit ihrem Ausstiegswunsch ans Ruder kommt?

Vor allem die zweite Variante birgt demokratische Brisanz. Mehrheitsbeschlüsse unterstellen für ihre Legitimation, dass die überstimmte Opposition sie revidieren kann, wenn sie zur Macht kommt. Die Chance, in ihren Augen falsche Entscheidungen eines Tages umzukehren, ist der Trost der parlamentarisch Unterlegenen und Antrieb ihres politischen Kampfes. Für den Staatshaushalt, Strafrechtsreformen, Hartz-IV-Gesetze et cetera. hat diese demokratische Korrekturoption zentrale Bedeutung.

In allen Fällen aber, die irreversible Eingriffe darstellen oder überragende Bedeutung für die Infrastruktur haben, bleibt sie reine Fiktion. Den einmal gebauten Flughafen wird man schwerlich wieder los, den Gotthard-Tunnel, der jetzt 24 Milliarden Franken kostet, schüttet keiner mehr zu. Und wäre Stuttgart 21 erst realisiert, würden auch die wütendsten Gegner das auf dem Gleisgelände erbaute neue Zentrum nicht schleifen.

Warum aber soll sich die überstimmte Minderheit auf alle Zeit in das Unabänderliche fügen, das ihr nicht einleuchtet? Niemand wird darauf antworten, dass für Großprojekte stets Konsens und Einstimmigkeit vorausgesetzt werden müsse; die Entscheidungsfähigkeit von Demokratien, schwerfällig wie sie ohnehin ist, wäre vollends im Eimer. Es genügt aber auch nicht der Hinweis darauf, dass die umfassende Erörterung und Abwägung aller Pro- und Contra-Argumente die kontroverse Entscheidung für die Unterlegenen akzeptabel macht. Auch das bleibt in den meisten Fällen Fiktion.

Um also die Legitimität von Infrastrukturprojekten gegenüber den überstimmten Kontrahenten zu stärken, so kann der Schluss nur lauten, muss eine Ausstiegschance eingeplant werden, so lange und so weit es geht. Das wäre, parallel zum humanitären Einsatz, ein neuer Begriff demokratischer Verantwortung.

Zumindest bei sehr umstrittenen Projekten bedeutet dies die Abkehr von der herrschenden, oft brachialen Durchsetzungsmentalität. Als im Jahre 2007 Edmund Stoiber zum "nationalen Schlüsselprojekt" des Transrapid verkündete: "Die politisch Verantwortlichen werden das nicht mehr stoppen", lag er nicht nur historisch daneben. Viel bedeutsamer war, dass das Projekt völlig vernagelt als alternativlos und unumkehrbar hingestellt wurde und daher keine offizielle Strategie für den damals ohne weiteres möglichen Ausstieg existierte.

Noch fataler ist dieser Mangel natürlich bei der Atomenergie, bei der weder der verantwortbare Abschluss des technischen Prozesses selbst (die Endlagerung) geplant noch, jedenfalls in den ersten Jahrzehnten, begleitend ein rationales Ausstiegsverfahren entworfen wurde. Erst die rot-grüne Bundesregierung hat dies zumindest im Ansatz nachgeholt, mit dem bekannten Ausgang. Der jetzt geforderte Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg beweist den Geburtsfehler.

Wie der Streit um Stuttgart 21 zeigt, lassen sich Ausstiegsvarianten noch viele Jahre, nachdem alles verbindlich entschieden und vermeintlich irreversibel in die Wege geleitet wurde, mit Vernunft und gutem Willen angehen. Es wäre ein Gebot nicht nur politischer Fairness, sondern demokratischer Verantwortung und Gestaltungsfreiheit, denkbare Ausstiegsvarianten einzuplanen, bis die Fakten eine Umkehr definitiv ausschließen. In Stuttgart waren das mehr als 15 Jahre.

Im Unterschied zur Exit-Strategie bei militärischen Interventionen, die das angezielte Ende festlegen, betreffen zivile Ausstiegsszenarien zunächst nur mögliche Optionen, mit denen die Mehrheitsentscheider den Projektgegnern für den Fall des Machtwechsels entgegenkommen. Damit handelt man sich allerdings auch ein Motivationsproblem ein.

Ist es nicht geradezu eine Grundkonstellation des ganzen Erneuerungs- und Umwälzungsschwungs der Moderne, dass man den großen Wurf anzielt und herausfordernde Projekte in Gang setzt, ohne immer gleich die möglichen Abstürze oder Zwänge zum Abbruch und zur Umkehr bedenken zu müssen?

In der Tat, wie soll man eine große Oper komponieren, wenn den Hinterkopf schon die Frage quält, ob sich das Orchester kurz vor der Ouvertüre für das Werk des Rivalen entscheidet? Aber wer hat gesagt, dass Demokratie das reine Vergnügen ist?

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