Stuttgart:Merkel: "Ich habe gelernt mit dem Spitznamen Mutti zu leben"

Stuttgart: Angela Merkel vor einem Foto des CDU-Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg, Guido Wolf. Der hatte sich im Wahlkampf immer wieder klar von der Kanzlerin abgesetzt.

Angela Merkel vor einem Foto des CDU-Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg, Guido Wolf. Der hatte sich im Wahlkampf immer wieder klar von der Kanzlerin abgesetzt.

(Foto: AP)

Viele werfen der Kanzlerin vor, am Niedergang der CDU auch in Baden-Württemberg schuld zu sein. Doch Merkel gibt sich in Stuttgart kurz vor der Landtagswahl unbekümmert.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Wo sie bloß diese Kondition hernimmt? Na ja, erwiderte Angela Merkel, so toll sei die nun auch wieder nicht. Auf dem Flug von Berlin nach Stuttgart sei sie doch glatt eingenickt. Man könnte nun annehmen, die Kanzlerin hätte auf diesen Trip nach Baden-Württemberg am Dienstag gut verzichten können, so kurz nach dem EU-Gipfel mit der Türkei. Aber sie wirkte dann doch hellwach in ihrem blauen Blazer, nachmittags bei einer Wahlkampfveranstaltung in Nürtingen, wo sie pflichtschuldig Attacken auf die grün-rote Landesregierung ritt, am Abend dann bei einem Gesprächsforum der Stuttgarter Nachrichten, wo es um die Flüchtlingskrise ging.

Aufgeben werde sie an beiden Fronten nicht, versicherte sie dem Chefredakteur Christoph Reisinger - obwohl die Zahl der Menschen, die an sie glauben, doch schwindet, wie sie selbst weiß. "Es gibt viele, die es sich wünschen, aber viele, die nicht daran glauben", sagte Merkel. Der Satz war auf eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise gemünzt. Er gilt aber genauso für einen Sieg ihrer CDU bei der Wahl am 13. März in Baden-Württemberg.

Im vollbesetzten Beethovensaal der Liederhalle hörte, inmitten eines sehr wohlwollenden Publikums, auch CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf seiner Parteichefin aufmerksam zu. Er hatte am Vormittag zum EU-Gipfel erklärt, von einem "Durchbruch" zu sprechen sei ihm doch zu pathetisch. Eben dieses Wort, Durchbruch, hatte Merkel in ihrer Analyse unmittelbar nach dem Gipfel verwendet. Ein typischer Wolf.

Spekulationen seien doch reine Zeitverschwendung

Immer wieder hat sich der Kandidat in diesem Wahlkampf von der Kanzlerin abgesetzt, während der grüne Ministerpräsident Kretschmann sie vorbehaltlos unterstützt. Sollte die Wahl so ausgehen, wie es die Umfragen andeuten, Schwarz hinter Grün, wird man wohl mit dem Finger von Stuttgart nach Berlin und umgekehrt von Berlin nach Stuttgart zeigen, wenn es um die Frage geht, wer die Schuld trägt.

Die Kanzlerin mit ihrer Flüchtlingspolitik, die der AfD Wähler zutreibt? Der Kandidat mit seiner Kampagne, die den Grünen Wähler zutreibt? Merkel wollte am Dienstag nicht spekulieren, wie hoch ihr persönlicher Anteil am Verfall der CDU in den Umfragen ist. Das, sagte sie, sei doch reine Zeitverschwendung.

Lieber will sie weiter für ihren Weg werben. In einem Abkommen mit der Türkei sieht sie nach wie vor den Königsweg, um die Außengrenzen der EU zu kontrollieren und damit den Flüchtlingszustrom nach Europa zu regulieren. Die Forderungen der türkischen Regierung, erhoben beim Gipfel, seien "nicht aus dem Off", sagte sie, womit sie meinte: durchaus nicht unverschämt.

Auf dem Spiel stünden die "Errungenschaften Europas"

Sechs Milliarden Euro statt drei, Visa-Liberalisierung, Eröffnung neuer Kapitel im EU-Beitrittsprozess - all dies sei aus Sicht Europas eine lohnende Investition. Auf dem Spiel stünden die "Errungenschaften Europas". Freizügigkeit, Frieden, Wohlstand. Von "Zwischenschritten", wie Kandidat Wolf sie gefordert hatte, nämlich Tageskontingenten und grenznahen Verteilungszentren, hält sie offenbar nicht viel. "Ich sehe so viele Fortschritte, dass es sich absolut lohnt, meinen Weg weiterzugehen. Ich will keinen Pfad verfolgen, der nur zu einer Scheinlösung führt."

Aufgeräumt, geradezu fröhlich erklärte sie ihre Sicht auf die Krisen der Welt, beschwor die Verantwortung Deutschlands für das Schicksal flüchtender Menschen. Um ihren Ruf in Deutschland scheint sie nicht besorgt zu sein. Mit dem wenig schmeichelhaften Kosenamen "Mutti" habe sie "zu leben gelernt", sagte sie, aber mittlerweile wird sie ja teilweise offen angefeindet.

Stört es sie nicht, wenn die AfD ihr Verrat am deutschen Volk vorwirft? In ihrem langen politischen Leben habe sie gelernt, mit "anderen Meinungen" zu leben, erwiderte sie. Sie erinnerte, zum Vergnügen ihrer Zuhörer, an den Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21, das nicht zuletzt auf ihren Willen hin gebaut wird. Draußen vor der Halle hatten S21-Aktivisten die Kanzlerin mit einem Pfeifkonzert empfangen. Aber damit konnte sie an diesem Tag sehr gut leben.

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