Stuttgart (dpa/lsw) - Lehrkräfte sollen nach dem Willen von Regierungschef Winfried Kretschmann künftig etwas weniger in Teilzeit arbeiten können. Das Land prüfe wegen des Lehrermangels, ob die Mindestarbeitszeit für Beamtinnen und Beamte in Teilzeit erhöht werden kann. „Jedenfalls wird das gerade zwischen dem Innenministerium und dem Kultusministerium geklärt“, sagte der Grünen-Politiker am Dienstag in Stuttgart.
Auch angesichts der Ankunft von 9000 geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine brauche das Land dringend mehr Lehrkräfte. Gewerkschaften und Opposition zeigten sich unisono irritiert über den überraschenden Vorstoß, der wenig durchdacht sei.
Eine Erhöhung der allgemeinen Wochenarbeitszeit von 41 Stunden für Landesbeamte strebe er nicht an, stellte Kretschmann klar. Am Montagabend hatte er bei einer Podiumsdiskussion der „Stuttgarter Zeitung“ noch gesagt: „Vielleicht müssen wir auch mehr arbeiten.“ Ihm gehe es in erster Linie um Lehrkräfte, betonte der Ministerpräsident am Dienstag. Die Regelungen bei Teilzeit seien derzeit „sehr großzügig“, sodass vor allem viele Lehrerinnen relativ wenige Stunden unterrichteten. Kretschmann bekräftigte, wenn jede Pädagogin in Teilzeit eine Stunde mehr unterrichten würde, gewönne man umgerechnet 1000 Lehrerstellen.
Wie ist die Mindestarbeitszeit bisher geregelt?
Derzeit ist es so, dass Landesbeamte grundsätzlich Anspruch darauf haben, in Teilzeit bis zu 50 Prozent zu arbeiten. Ein Sprecher des Kultusministeriums erklärte, ein Antrag auf Teilzeit aus familiären Gründen, etwa weil ein Kind betreut oder ein Angehöriger gepflegt wird, könne nur abgelehnt werden, wenn zwingende dienstliche Gründe dem entgegenstünden. Die Untergrenze bei der Teilzeit ist seit einer Änderung unter Grün-Rot vor fünf Jahren 25 Prozent - vorher waren es noch 30 Prozent. Solche Anträge werden bei Lehrkräften individuell vom jeweiligen Regierungspräsidium geprüft.
Nach Angaben der Gewerkschaft GEW hat die frühere Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) die Behörden aber angewiesen, solche Anträge wegen des Lehrermangels im Zweifel auch abzulehnen. Im Südwesten gibt es gut 110.000 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen. Vor allem in Grundschulen ist der Anteil der Lehrerinnen groß. Das Ministerium stellte klar, wer eine Stunde mehr arbeite, bekomme natürlich auch mehr Gehalt.
Kretschmann koffert Gewerkschaften an: „Übliches Latein“
Grundsätzlich gehe es darum, dass wegen der Folgen des Ukraine-Kriegs auch im Südwesten gewohnte Dinge auf den Prüfstand gestellt werden müssten, sagte Kretschmann. „Dabei rate ich allen dazu, von ihren Reflexen abzusehen - das gilt auch für Gewerkschaftsfunktionäre.“ Diese sollten in dieser besonderen Situation nicht ihr „übliches Latein“ abspulen. Auf die Frage, ob eine Einschränkung der Teilzeit nicht auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beeinträchtige, bemerkte er: „Von solchen Empfindlichkeiten sollten wir mal Abschied nehmen - bei der Weltlage, in der wir sind.“
Kritik an der Idee: daneben, unverantwortlich, nicht praxistauglich
Monika Stein, GEW-Landeschefin nannte den Vorschlag „total daneben“. Sie sagte der dpa: „Die Teilzeit-Lehrkräfte arbeiten nicht deshalb weniger, weil es Spaß macht, weniger Geld zu verdienen, sondern weil es für sie notwendig ist, Teilzeit zu arbeiten, damit sie ihren Beruf gut ausüben können.“ Es gehe auch darum, Familie und Job unter einen Hut zu bringen.
Nach zwei Jahren Pandemie seien viele mit ihren Kräften sowieso schon am Ende. Jetzt kämen noch Kinder aus der Ukraine in die Schulen. „Wenn ich die Belastung weiter erhöhe, werden deutlich mehr Lehrkräfte ausfallen“, warnte Stein. Sie schlug vor, durch eine Erhöhung der Altersermäßigung zu erreichen, dass Lehrkräfte länger arbeiten können.
Gerhard Brand vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) sagte der dpa: „Das Thema Arbeitszeit wird ausgerechnet in einer Phase wieder aus der Schublade geholt, in der Lehrer wegen Pandemie und Krieg bereits lange ohne Murren bis zum Anschlag gearbeitet haben.“ Kretschmanns Vorschlag sei nicht praxistauglich.
Es habe sich gezeigt, dass es vor allem in den Reihen der pensionierten Lehrkräfte und der Studenten eine enorme Hilfsbereitschaft für die Tausenden ukrainischen Flüchtlingskinder gebe. „Aber das Land schafft es nicht, die Organisationen, die sich einsetzen wollen, zu koordinieren.“
Als unverantwortlich bezeichnete Ralf Scholl vom Philologenverband Kretschmanns Äußerungen. „Man fühlt sich als Lehrkraft oder Schüler in Baden-Württemberg mittlerweile als Kretsch-Test-Dummy“, sagte er. „Man wird ins Schulsystem gepackt und das lässt die Landesregierung gegen die Wand fahren.“ Kretschmann müsse vor allem besser rechnen: So reiche es für 1000 weitere Lehrerstellen aus, würde nur etwa jede dritte Teilzeitkraft eine Stunde länger arbeiten.
Opposition nennt Kretschmann „selbstherrlich und realitätsfern“
Die SPD warf Kretschmann vor, erst jetzt „aus seinem Dornröschenschlaf“ aufzuwachen und den akuten Lehrkräftemangel zu erkennen. „Aber anstatt sich an die eigene Nase zu fassen, zeigt er jetzt mit dem Finger auf die Lehrkräfte“, kritisierte Stefan Fulst-Blei.
Für die FDP sagte Timm Kern: „Wenn man Kretschmanns selbstherrliche und zugleich realitätsferne Aussagen so hört, kann man durchaus zum Schluss gelangen, dass ihm und der ganzen Landesregierung die Gesundheit und Wertschätzung der Lehrkräfte in Baden-Württemberg herzlich egal sind.“
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