Stuttgart 21:Gesangsstunde in der Bahnhofshalle

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Die Projektverantwortlichen sind für sie "Lügenpack", Heiner Geißler geht ihnen "auf den Sack": Die Gegner von Stuttgart 21 haben mittlerweile die 57. Montagsdemo absolviert. Noch hält ihr Zorn an.

Roman Deininger, Stuttgart

"Ja", sagt Gangolf Stocker, der lange gezögert hat vor dieser kurzen Antwort. Ja, es habe einen Moment des Zweifels gegeben, einen ziemlich ausgedehnten Moment, der während der Schlichtung durch Heiner Geißler begann. "Da sah es so aus, als würden wir an Schwung verlieren." Und so richtig sei dieser Moment gerade erst vorbei.

Der Ton ist über Weihnachten nicht versöhnlicher geworden: Demonstranten am Montag vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. (Foto: dpa)

Stocker ist 66 Jahre alt, Kunstmaler, aber zum Malen kommt er schon lange nicht mehr. Im Rentenalter ist der parteilose Gemeinderat zum Chefwiderständler geworden, zum Sprecher des Aktionsbündnisses gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. "Schauen Sie sich das an", sagt Stocker, "die Menschen geben nicht auf". Hinter ihm, in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs, singt ein Demonstrantenchor aus hundert Kehlen die Ode an die Freude, mit neuem Text: "Freude schöner Kopfbahnhöfe". Ein "Kommunikationsteam" der Polizei kommuniziert vergeblich, dass Gesangsstunden in der Eingangshalle nicht abgemacht waren.

Eben ist die rituelle "Montagsdemo" zu Ende gegangen, es war die 57. seit Beginn der Proteste gegen den Bau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs und sicher eine der wichtigsten. "Natürlich war das auch ein Test", sagt Stocker. Zu testen galt es, ob nach der Winterpause noch etwas übrig sein würde von der Wucht des Bürgerzorns aus dem vergangenen Herbst. Der FDP-Fraktionschef im Landtag, Hans-Ulrich Rülke, hatte sich jüngst überzeugt gezeigt, dass "das Thema durch die Schlichtung an Breitenwirkung und Emotionalität verloren hat".

7000 Teilnehmer zählen die Organisatoren dann am Montagabend vor dem Bahnhof, auf 4000 kam die Polizei, aber gleich wem man glaubt: Den Test hat das Aktionsbündnis bestanden. "Wir werden jetzt weiter Druck machen", sagt Stocker, "mit der Landtagswahl haben wir eine Riesenchance". Am 27. März könne Baden-Württemberg "Schwarz-Gelb abwählen und damit auch Stuttgart 21".

Vor dem Wahltag sind drei Großdemonstrationen geplant, am 29. Januar, am 19. Februar und am 19. März. "Bei allem Respekt vor den Leuten, die sich auf Bäume setzen", sagt Stocker, "Großdemos sind das, was Eindruck macht auf die Politik". Außerdem soll in jedem Wahlkreis eine Veranstaltung des Aktionsbündnisses stattfinden, die von den Grünen und der Linken organisiert werden - jenen beiden Parteien, die sich strikt gegen Stuttgart 21 ausgesprochen haben. Dennoch beteuert das Bündnis, den Protest nicht "parteipolitisch instrumentalisieren" zu wollen.

Der Ton jedenfalls ist über Weihnachten nicht versöhnlicher geworden. Am lautesten geraten die Sprechchöre stets dann, wenn die Projektverantwortlichen zum "Lügenpack" erklärt werden. Das Lob für den Schlichter Geißler, ruft der Theaterregisseur Volker Lösch in die Menge, "geht mir auf den Sack". Geißler sei mit seiner Empfehlung zum Weiterbau wieder "zu dem unsachlichen Parteipolitiker geworden, der er jahrzehntelang war".

Seine Mitstreiter fordert Lösch auf, "physisch präsent" zu sein: "Dann wird niemand weiterbauen können." Am Dienstag blockierten 80 Demonstranten die Zufahrt zur Baustelle am Hauptbahnhof. 61 wurden wegen Nötigung angezeigt, zwei wegen Körperverletzung festgenommen. Ministerpräsident Stefan Mappus sagte später: "Jeder, der das Feuer jetzt wieder anheizt, muss die Verantwortung dafür auch tragen."

© SZ vom 12.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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