Stuttgart (dpa/lsw) - Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sollte die anderen Parteien in den Sondierungsgesprächen aus Sicht des Verhandlungsexperten Thorsten Hofmann möglichst lange zappeln lassen. „Zeit ist ein Machtfaktor“, sagte Hofmann, der einst als Ermittler des Bundeskriminalamts mit Geiselnehmern und Erpressern verhandelte, der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Die Tatsache, dass Kretschmann sowohl von SPD und FDP als auch von der CDU umworben werde, erzeuge Druck und schaffe Abhängigkeiten. „Lass die Gesprächspartner in der Unsicherheitslage, dann sind sie bereit, noch mehr Zugeständnisse zu machen“, empfiehlt Hofmann.
Hofmann hat als Ermittler beim Bundeskriminalamt mit Kriminellen verhandelt, heute berät er Unternehmen, Verbände und die Politik. Auch Koalitionsverhandlungen hat er schon begleitet. Er lehrt Verhandlungsmanagement an der Quadriga Hochschule Berlin. „Wenn sich jemand mit mir an einen Tisch setzt, egal ob bei einer Geiselnahme oder einer politischen Verhandlung, dann will er auch was von mir“, sagt er. „Für irgendetwas braucht mich das Gegenüber, sonst würde es nicht mit mir sprechen. Mein Job ist es dann, herauszuarbeiten, wie weit die Person bereit ist, zu gehen.“
Derzeit lotet der Wahlsieger Kretschmann mit seinen Grünen bei Sondierungsgesprächen aus, mit wem er am liebsten eine Regierung bilden möchte. Die Grünen können wählen zwischen einer Neuauflage von Grün-Schwarz und einer Ampelkoalition mit SPD und FDP. Alle drei Parteien umgarnen die Grünen. In der zweiten Runde der Gespräche am Mittwoch und Donnerstag war vor allem bei den liberalen und sozialdemokratischen Ampel-Anwärtern viel Euphorie zu spüren. Sie wollten sich am Freitag erstmals auch zu zweit treffen, um die Ampel auszuloten. Am Samstag dann steht die dritte Sondierungsrunde auf dem Programm - dann erstmals mit einem Dreier-Ampel-Gespräch von Grünen, SPD und FDP. Außerdem kommen die Grünen erneut mit der CDU zusammen.
Kretschmann dürfe keiner Seite eine Präferenz zeigen, sagt Hofmann. Er müsse sich aber gut überlegen, mit welchen Gesprächspartnern er in Koalitionsverhandlungen eintritt. Denn wenn die scheiterten, würde das seine Verhandlungsposition schwächen - und das wisse auch das Gegenüber. „In dem Moment, wo er sich für eine Braut entscheidet, hat die Braut schon mehr Macht“, sagt Hofmann. „Deshalb muss er jetzt seine eigenen Positionen so weit wie möglich abnicken lassen.“
In den Sondierungsgesprächen geht es aus Sicht des Verhandlungsprofis weniger um Inhalte als vielmehr um zwischenmenschliche Beziehungen und Vertrauen. „Kretschmann ist ein gestärkter Player, aber er ist auch 72 Jahre alt“, sagt er. Zudem sei seine Frau vor kurzem erkrankt und er wolle für sie da sein. „Er wird sich überlegen, wie er die nächsten fünf Jahre gestaltet haben will, wie sein Arbeitsalltag aussehen wird. Die persönlichen Beziehungen zum Koalitionspartner spielen eine große Rolle.“
Geht es um Stabilität und Vertrauen, könnte man für die CDU anführen, dass man sich nach fünf Jahren grün-schwarzer Koalitionsarbeit bereits kennt. Außerdem wird CDU-Landeschef Thomas Strobl ein gutes Verhältnis zu Kretschmann nachgesagt. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke fiel hingegen in den vergangenen Jahren mit heftiger Kritik an den Grünen und Kretschmanns Regierung auf. Außerdem sagt Hofmann: „Es ist leichter, mit einem Partner zu führen als mit zweien.“
Allerdings hat sich Kretschmann auch immer wieder über seinen Koalitionspartner CDU geärgert. Zudem steht die Union nach dem Desaster bei der Landtagswahl unter enormem Druck, sich inhaltlich und personell zu erneuern - was die Frage nach der Stabilität des Juniorpartners in den nächsten Jahren aufwirft. Und mit der SPD finden die Grünen deutlich mehr Gemeinsamkeiten als zur CDU. Und Rülkes Attacken? Er sei nicht nachtragend, sagte Kretschmann vor kurzem. Der Landesvater spricht jedenfalls von einer Entscheidung von „großer strategischer Tragweite“.
So richtig viel falsch machen könne Kretschmann nicht in den Verhandlungen, sagt Verhandlungsexperte Hofmann. Er habe eine bessere Ausgangsposition als noch 2016. Der eher konservative Regierungschef werde sich auch von den linksorientierten Partei-Grünen nichts sagen lassen, da ist sich Hofmann sicher. Denn am Verhandlungstisch sitzen auch die Grünen-Landesvorsitzenden Oliver Hildenbrand und Sandra Detzer. „Von den Grünen wird Kretschmann keiner in die Parade fahren“, betont Hofmann. „Er war bei der Wahl sehr erfolgreich, das wird er sich verbieten. Er ist der starke Mann und er weiß das auch.“
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