Süddeutsche Zeitung

Debatte über Stuttgarter "Querdenken"-Demo:"Eine gesamtgesellschaftliche Gefährdung"

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Hätte Stuttgart die "Querdenken"-Demo verbieten müssen? Baden-Württembergs Gesundheitsminister will die Stadt zur Rede stellen. Der Ordnungsbürgermeister verteidigt sich.

Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) will alles dafür tun, dass sich Demonstrationen wie am Samstag in Stuttgart mit Tausenden ohne Maske und Abstand nicht wiederholen. "Das, was gestern passiert ist, ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich an die Pandemieregeln halten. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Gefährdung und dazu geeignet, die dritte Corona-Welle zu befördern", sagte Lucha am Sonntag. Den Demonstranten sei es nicht um Freiheitsrechte gegangen, sondern darum die demokratische Grundordnung zu stören. In der kommenden Woche werde es Gespräche mit der Stadt geben. "Wir werden die Situation analysieren", kündigte Lucha an.

Seiner Ansicht nach gibt die derzeit gültige Corona-Verordnung des Landes ein Verbot solcher Massenversammlungen her. Deshalb halte er eine Anpassung der Corona-Verordnung für nicht nötig. Dies hatte Stuttgarts Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler) ins Spiel gebracht. Man werde sich mit der Landesregierung beraten, inwieweit die Corona-Verordnung nach den Erfahrungen in Sachen Versammlungen angepasst werde, sagte Maier am Samstag.

Maier verteidigte das Vorgehen der Stadt. "Ich glaube, wir haben das Beste daraus gemacht", sagte Maier am Sonntag. "Wenn die Polizei die Versammlung auf Geheiß der Versammlungsbehörde aufgelöst hätte, hätte sie versuchen müssen, 15 000 Menschen nach Hause zu schicken." Diese wären aber nicht freiwillig gegangen und die Polizei hätte massiv Gewalt einsetzen müssen. All das sei durchgespielt worden in Gesprächen mit der Polizei.

Nach wie vor sei er der Ansicht, dass die Corona-Verordnung ein Verbot solcher Massenversammlungen nicht hergebe. Für ihn sei nicht nachvollziehbar, wie das Landessozialministerium - ohne eine Bewertung der Verbotsvoraussetzungen im konkreten Fall - zu der Einschätzung komme, man hätte die Versammlung verbieten können. Wenn das Ministerium tatsächlich diese Rechtsauffassung vertreten sollte, hätte es die Stadt auch anweisen können, die Versammlung zu verbieten. "Das ist aber nicht erfolgt", betonte Maier. In den nächsten Tagen werde es mit Land und Polizei Gespräche geben.

Der Stuttgarter SPD-Kreisvorsitzende Dejan Perc fordert Maiers Rücktritt. Das Bild, das Stuttgart gestern abgegeben hat, ist beschämend. Tausende Demonstrierende treffen sich unter bewusster Missachtung der Hygiene- und Abstandsregeln. Und der Stadtspitze in Person des Ordnungsbürgermeisters fällt nichts anderes dazu ein, als den friedlichen Verlauf zu loben?", sagte Perc am Sonntagabend.

Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) will künftige Veranstaltungen derselben Anmelder wie am Samstag wegen der Auflagenverstöße verbieten. Die Stadt beabsichtige zudem das rechtswidrige Verhalten vieler Teilnehmer der "Querdenken"-Kundgebung mit Bußgeldern zu ahnden, sagte Nopper am Sonntag.

Insgesamt waren am Samstag mehr als 1000 Polizisten im Einsatz. Zwei Wasserwerfer standen laut Maier bereit. Die baden-württembergischen Beamten wurden unterstützt von der Bundespolizei sowie von Polizisten aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen.

"Den Mist vor die Füße gekippt": Auch die Polizeigewerkschaft ist sauer auf die Stadt

Die Deutsche Polizeigewerkschaft hat die Stadt Stuttgart scharf kritisiert. "Das versteht keiner - auch wir nicht. Während in anderen Teilen des Landes die Versammlungsbehörden und die Polizei hart und konsequent reagiert und agiert haben, scheint es so, dass in Stuttgart alles möglich ist", sagte Ralf Kusterer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft am Sonntag. Wenn sich durch die Ereignisse die Infektionszahlen erhöhten, schade das der gesamten Bevölkerung. Solche Demonstrationen könnten verboten werden, sagte Kusterer. "Friedlich und ohne Waffen heißt in Pandemiezeiten mit Abstand und mit Maske. Wer sich daran nicht hält, verhält sich asozial und macht sich strafbar."

Die Zuständigkeit für ein Verbot liege bei der Stadt, die Polizei werde aber kritisiert, weil sie nicht eingeschritten sei, sagte Polizeigewerkschafter Kusterer. "Offensichtlich scheint es ein Missverständnis zu geben, wenn die Stuttgarter Stadtverwaltung und damit die Versammlungsbehörde sich um klare Entscheidungen drückt und der Polizei dann den Mist vor die Füße kippt." Die Polizei muss laut Kusterer in die Lage versetzt werden, konsequent einschreiten zu können, wenn die Versammlungsbehörde wie in Stuttgart patze. "Hier erwarte ich Vorarbeiten und Vorgaben des Innenministeriums, klare gesetzliche Regelungen der Landesregierung und den klaren politischen Rückhalt. Dabei darf es auch keine Rolle spielen, ob es sich um Querdenker, Recht, Linke, Umweltschützer oder den Deutschen Gewerkschaftsbund handelt." Wer in solchen Zeiten das Recht auf Meinungsfreiheit einfordere und die Versammlungsfreiheit in Anspruch nehme, habe nicht das Recht, die Gesundheit und das Leben anderer zu gefährden.

Laut dem Deutschen Journalisten-Verband kam es bei der Demonstration in Stuttgart zu Attacken gegen Journalisten sowie Steinwürfen. Die Polizei nahm nach eigenen Angaben einen 37-Jährigen vorläufig fest, der offenbar einen 26-jährigen Journalisten geschlagen hatte. Ein Fernsehteam des Südwestrundfunks musste eine Live-Schalte mit "Tagesschau 24" abbrechen.

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