Stuttgart 21: Winfried Hermann im Interview:"Ich musste durchsetzen, dass nicht getrickst wird"

Seit 19 Jahren kämpft Winfried Hermann gegen Stuttgart 21 - jetzt ist er in Baden-Württemberg Verkehrsminister, doch das umstrittene Bahnprojekt ist noch nicht vom Tisch. Im SZ-Interview spricht der Grünen-Politiker über die neue Gewalt auf der Baustelle, das Verhalten der Bahn und seine Möglichkeiten, das Projekt zu stoppen.

Roman Deininger und Heribert Prantl

Verkehrsminister Winfried Hermann hat eine Schlüsselrolle im baden-württembergischen Kabinett. Der 58-jährige Grüne aus Tübingen, zuvor Vorsitzender des Bundestags-Verkehrsausschuss, will den Tiefbahnhof Stuttgart 21 verhindern.

Volksversammlung zu Stuttgart 21

Seit 19 Jahren ein Kämpfer gegen Stuttgart 21: Minister Winfried Hermann jüngst bei einem Auftritt auf dem Marktplatz der Landeshauptstadt, das Mikrofon an der Backe.

(Foto: dpa)

SZ: Herr Minister, Spiegel-Gespräch am 20. September 2010. Frage: "Wenn die Grünen in Baden-Württemberg mitregieren, würde dann Stuttgart 21 sofort gestoppt?" Antwort von Ihnen: "Ja, mit neuer Mehrheit." Wo ist der Stopp?

Winfried Hermann: Wir sind leider nicht mit 51 Prozent gewählt worden. Wir haben eine Koalition mit der SPD und ein gutes Verfahren: Stresstest, transparente Kostenkontrolle und Volksabstimmung. Ich glaube, wir haben das Maximum herausgeholt. Und wir sind noch nicht am Ende.

SZ: Sie geben sich sicher, dass Stuttgart 21 den Stresstest nicht besteht. Gleichzeitig nennen Sie ihn eine Alibi-Veranstaltung. Wie passt das zusammen?

Hermann: Die Bahn wollte nicht den kundenfreundlichen Fahrplan, auf den sie sich mit dem Land in der Schlichtung geeinigt hatte, simulieren. Sie hat einen eigenen Fahrplan eingespielt, der so gebaut war, dass der Bahnhof die Prüfung besteht. Ich musste durchsetzen, dass nicht getrickst wird. Außerdem hat ein Vorab-Test der Grünen gezeigt, dass der Tiefbahnhof maximal das an Leistung bringen könnte, was der Kopfbahnhof jetzt schon kann.

SZ: Wenn das für Sie Falsche herauskommt, sagen Sie: der Stresstest ist nicht richtig durchgeführt worden.

Hermann: Nein. Es ist kein Drehen am Verfahren, wenn man auf die Einhaltung der verabredeten Kriterien achtet. Ob alles in Ordnung war, kann ich erst sagen, wenn die Bewertung der Schweizer Gutachterfirma SMA vorliegt.

SZ: Sie werfen der Bahn vor, sie tue so, als würde sie das Ergebnis schon kennen. Aber Sie machen das doch auch.

Hermann: Das gestehe ich ein, dass ich das zu kategorisch formuliert habe. Aber so wie Bahnchef Grube jetzt aufs Tempo drückt, wundert man sich schon, ob der Stresstest nicht doch nur Alibi ist. Bei einer ernsten Prüfung könnte man ja kaum am 14. Juli die Ergebnisse vorstellen und am 15. schon Aufträge vergeben wollen.

SZ: Eine gewisse Gereiztheit gegenüber den Bahn-Verantwortlichen können Sie nicht immer verbergen.

Hermann: Ich begleite dieses Projekt seit 1992. In diesen 19 Jahren gab es Phasen, wo selbst die Bahn sagte: Dieses teuere Projekt wollen wir nicht. Wenn man das alles weiß, darf man schon mal genervt sein.

"Stuttgart 21 ist abartig teuer geworden"

SZ: Stellen wir uns vor, ein Entwicklungshelfer aus Stuttgart ist 1992 in den Kongo gegangen und kehrt jetzt zurück. Er hat nichts mitbekommen in diesen 19Jahren. Erklären Sie ihm doch mal, was jetzt gegen Stuttgart 21 spricht.

Hermann: Der existierende Stuttgarter Kopfbahnhof ist der bestfunktionierende Großstadtbahnhof in Deutschland mit den geringsten Verspätungen. Den will man jetzt vergraben, was für die Mehrheit der Fahrgäste nur Nachteile haben wird. Wir geben fünf Milliarden Euro aus und bekommen nichts Besseres, als wir schon haben.

SZ: Woher schöpfen Sie die Zuversicht, dass die Bahn sich davon überzeugen lässt? Darauf müsste es doch in Ihrem Sinn herauslaufen: Dass die Bahn wie die Energiewirtschaft 1989 bei der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf beschließt, es bleiben zu lassen.

Hermann: Wackersdorf war ökonomisch sinnlos geworden. Auch Stuttgart 21 ist schon abartig teuer geworden, viel teuerer als geplant. Wir haben viele Indizien, dass die momentan angegebenen circa 4,1 Milliarden Euro längst übertroffen sind. Wenn ich noch die Risikoliste der Bahn dazunehme, wird es leicht über die Maximalgrenze von 4,5 Milliarden Euro gehen.

SZ: Sind die Kosten für den Ausstieg nicht so hoch, dass das für das Land ein schlechtes Geschäft wäre?

Hermann: Die Bahn kommt ja immer mit der astronomischen Summe von 1,5 Milliarden. Ich tue nicht so, als wäre ein Ausstieg kostenlos. Unabhängige Experten rechnen mit 500 bis 600 Millionen Euro. Das ärgert mich ja am meisten, dass man für dieses Geld anderswo einen Kopfbahnhof saniert, in Leipzig etwa.

"Es gibt viele Hebel"

SZ: Eigentlich müssten Sie doch unzufrieden sein, dass es die Schlichtung überhaupt gab. Ohne die wäre die Kritik an dem Projekt wohl weiter gewachsen. Nun glauben viele, dass man es mit einigen Änderungen schon hinbekommt.

Hermann: Die Schlichtung hat das große Verdienst, dass der Diskurs jetzt rational ist, dass viele Fakten auf den Tisch gekommen sind.

SZ: Was sind denn nun Ihre Hebel, um das Projekt zu stoppen?

Hermann: Es gibt viele Hebel. Ich habe für Kostentransparenz zu sorgen, aber die Bahn ist uns Belege für die Kostenentwicklung bis jetzt schuldig geblieben.

SZ: Mal konkret: Wo hat die Bahn Ihre Informationspflicht verletzt?

Hermann: Die Bahn hat intern 121 Kostenrisiken aufgelistet, die haben wir bis heute nicht bekommen. Was man kriegt, sind oberflächliche Antworten. Um unter fünf Milliarden Euro zu bleiben, hat Bahnchef Grube hemdsärmelig 900 Millionen Euro aus den Gesamtkosten herausrechnen lassen, auch das ist nicht belegt. Und die Verbesserungsvorschläge der Schlichtung, ein neuntes und zehntes Gleis etwa, ignoriert die Bahn einfach.

SZ: Sie haben keinen Baustopp bis zur Vorstellung des Stresstests beantragt, weil Sie der Bahn unzureichende Information über die Kosten dafür vorwerfen. Was hat Ihnen die Bahn denn gegeben?

(Anmerkung: Hermann geht zu seinem Schreibtisch und holt ein Schreiben von Bahn-Vorstand Volker Kefer aus dem Rucksack. Es besteht aus vier handgeschriebenen Seiten, die Kostenrechnung hat eine Seite. Unter drei Spiegelstrichen mit Einzelposten schreibt Kefer: "In Summe wäre damit die DB AG mit 56 Millionen Euro zu entschädigen.")

Hermann: Ich habe Herrn Kefer gesagt, dass ich ohne genaue Zahlen nicht ins Kabinett gehen kann wegen einer Beteiligung des Landes. Aber das war alles, was ich bekommen habe. Mit so einem Papier könnte man nicht mal im Gemeinderat tausend Euro beantragen. Nach unserer Rechnung würde der Stopp nicht 56Millionen, sondern höchstens sieben Millionen Euro kosten. Alle Rechnungen der Bahn werden ja damit begründet, dass sich durch die Verzögerung 2011 die angestrebte Inbetriebnahme des Bahnhofs im Dezember 2019 verschiebt. Tatsächlich - das wissen wir aus internen Dokumenten - geht die Bahn schon längst selbst von einer anderen Endzeit aus.

SZ: Wäre es nicht klüger gewesen, Sie hätten den Baustopp beantragt - und dazu gesagt, dass Sie nichts zahlen wollen.

Hermann: Das hätte unsere Absichten vielleicht besser zum Ausdruck, aber sonst auch nichts gebracht. Wir wollten nicht, dass die Bahn weiterbaut, weil sie damit den mühsam erarbeiteten sozialen Frieden in Stuttgart gefährdet. Und so ist es ja jetzt gekommen.

SZ: Ist die Schuldzuweisung an die Bahn nicht eine Relativierung der Gewalt der Demonstranten am Montagabend? Die Bahn hat doch Baurecht.

Hermann: Was hat denn die Bahn für ein Baurecht? Wir wollen doch mal festhalten, dass es entscheidende Veränderungen am Projekt gibt: Die Bahn will zum Beispiel der Baugrube mehr als doppelt so viel Grundwasser entnehmen wie vorgesehen. Wir haben ein Gutachten, das sagt: Das macht die Baugenehmigung hinfällig. Die Bahn will Tunnel mit einer anderen als der genehmigten Technik bauen. Da ist rechtlich noch lange nicht alles in trockenen Tüchern. Mit der Teilnahme an der Schlichtung hatte die Bahn eingesehen, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann. Es war doch klar, dass ein Risiko damit verbunden ist, wenn sie diese Position des Dialogs jetzt aufbricht. Damit relativiere ich keine Gewalt, die lehne ich ab.

SZ: Das, was die Bahn auf der Baustelle tut, darf sie tun. Ob die Änderung beim Grundwasser die Baugenehmigung tangiert, wird das Eisenbahnbundesamt entscheiden. Sollten Sie das nicht den Menschen auf der Straße vermitteln? Hätten Sie nicht mehr tun können, um die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen?

Hermann: Wenn jemand viel dazu beigetragen hat, dass der Diskurs über Stuttgart 21 an Fakten und Zahlen orientiert ist, dann sind es die Grünen, und ich in besonderer Weise. Wir Grüne haben immer mit verkehrlichen, ökonomischen und ökologischen Gründen argumentiert. Die Bahn tut das nicht.

SZ: Haben Sie Angst vor dem Protest und davor, dass er irgendwann seine Eltern frisst? Dass es "Lügenpack"-Rufe gibt gegen Winfried Hermann?

Hermann: Nein, ich bin bei vielen anerkannt als einer, der in dieser Sache seit vielen Jahren seriös unterwegs ist. Aber ich sehe natürlich das Risiko, weil ich als Regierungsmitglied nicht agieren kann als wäre ich der Sprecher des Gegnerbündnisses. Die Leute werden von mir nicht das Unmögliche verlangen. Das Projekt steht und fällt ja auch nicht mit mir allein: Da ist die ganze Landesregierung, da ist die Bahn, da ist der Bund.

SZ: Wir stellen uns vor: Der Abend der Volksabstimmung, 22 Uhr. Die Bürger haben sich für Stuttgart 21 entschieden, und Sie werden gefragt: "Was machen Sie jetzt, Herr Minister?" Was antworten Sie?

Hermann: Wenn es zu einer Volksabstimmung kommt, dann werde ich pausenlos unterwegs sein, um dafür zu sorgen, dass dieser Fall nicht eintritt.

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