Stuttgart 21:Blitze im Schienennetz

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Abgründe, Gräben und Klüfte liegen zwischen Gegnern und Befürwortern von Stuttgart 21. Die Verhandlungspartner haben auch in der zweiten Runde keine Verwerfung ausgelassen.

Martin Kotynek

Die Serpentine scheint Heiner Geißlers Sache nicht zu sein. Für seine Schlichtung zu Stuttgart 21 wählt er lieber den mühsamen Weg, die Befürworter und Gegner des Bahnprojektes führt er am Freitag mitten hinein in die Abgründe, Gräben und Klüfte, welche die beiden Gruppen voneinander trennen. Detail für Detail kämpft er sich durch den zweiten Schlichtungstermin, immer auf der Suche nach einem Pfad hinaus aus der Tiefe, hin zum Kompromiss. Und er müht sich dabei sehr, die zerstrittenen Gruppen beisammen zu halten.

Auf dem Baugelände für das umstrittene Bauprojekt Stuttgart 21 vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof werden am Freitag Arbeiten für das Grundwassermanagement ausgeführt. Die Schlichtung geht derweil weiter. (Foto: dpa)

Wie stark Projektbetreiber und Gegner einander misstrauen, zeigt sich gleich zu Beginn des Treffens: Die Gegner sind erbost, dass die Bahn Betonteile an die Baustelle am Bahnhof liefert - damit würde sie die Vereinbarung verletzen, während der Schlichtung nicht weiterzubauen, sagen sie. Inakzeptabel sei das. Die Bahn sieht das anders, das sei bloß eine vorbereitende Arbeit, und das sei zulässig. Zumindest diesen Streit kann Geißler schlichten: Bis Donnerstag muss die Bahn fertig sein mit ihren Vorbereitungen.

Schwieriger wird es dann bei der Frage nach der Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs - ein Streitpunkt, bei dem sich die beiden Gruppen schon in der vergangenen Woche keinen Schritt bewegten. Da hatten die Gegner bezweifelt, dass Stuttgart 21 besser sei als der bestehende Kopfbahnhof. Diesmal gehen die Befürworter auf die Befürchtungen der Gegner ein. Der Vortrag von Volker Kefer hat pädagogischen Charakter. Mit konkreten Beispielen erklärt der Technik-Chef der Bahn, warum Züge in Durchgangsbahnhöfen die Gleise nicht so lange belegen wie in Kopfbahnhöfen und wieso ein Zug bei der Einfahrt in den Kopfbahnhof die Gleise von anderen Zügen zwangsläufig blockiert.

Dazu haben seine Leute ein Video von einem ICE gedreht, der in den Stuttgarter Bahnhof einfährt. Die Uhr läuft mit. Man sieht, wie der Zug stehenbleibt, die Menschen ein- und aussteigen - und dann passiert nichts. Kefer lässt alle warten. Die Menschen im Saal erleben in Echtzeit, wie lange der Zug aus technischen Gründen im Kopfbahnhof stehen bleiben muss, bis er in die Gegenrichtung wieder ausfahren kann. Im Durchgangsbahnhof könnte er hingegen schon nach zwei Minuten weiterfahren, sagt Kefer.

Der Projekt-Gegner Boris Palmer setzt hingegen auf Angriff. Auf den Powerpoint-Folien des grünen Tübinger Oberbürgermeisters blinken rote Blitze auf - an diesen Stellen im Schienennetz von Stuttgart 21 soll es Engpässe geben. An anderen Stellen kriechen Schnecken herum - dort verlören die Züge Zeit - und bei Verbindungen aus dem Umland steht fast überall ein rotes Minus, das bedeutet: weniger Züge nach Stuttgart, wenn der neue Bahnhof kommt. "Die Züge fahren wie Kraut und Rüben durch den neuen Tunnelbahnhof", sagt Palmer. Anschlüsse würden durch Stuttgart 21 tendenziell schlechter, die Zuverlässigkeit sinke, weil sich Züge im Weg stünden. Die Bahn würde noch unpünktlicher, besonders im Berufsverkehr. "Unpünktlich, unpünktlich, unpünktlich", wiederholt Palmer.

Doch anders als beim ersten Schlichtungsgespräch sind die Befürworter auf die Argumente des Grünen-Politikers vorbereitet. Es stellt sich heraus, dass Palmer für einen Teil seiner Annahmen Daten der Bahn verwendet hat, die nicht mehr aktuell sind. Sofort sagt Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) zu, Palmer die neuen Daten zur Verfügung zu stellen. "Wir werden unsere Folien ändern, wenn wir die neuen Zahlen haben", kündigt Palmer an. Im Lauf der Diskussion müssen aber auch die Befürworter immer wieder zugeben, dass wichtige Details "noch nicht vorliegen", "noch unklar sind" oder dass es sich "um einen Zwischenstand" handelt. So bleiben die wesentlichen Fragen der Gegner unbeantwortet.

"Wir machen das, was ich sage"

Trotzdem gelingt es Heiner Geißler, dass das stundenlange Gespräch nicht zum bloßen Schlagabtausch wird. Er will es genau wissen, Folie für Folie geht er die Argumente beider Seiten durch, fragt so lange nach, bis eine Frage entweder beantwortet ist oder man sie vertagt. Dabei kann er auch ziemlich streng sein. "Tschuldigung, wir machen das, was ich sage, würde ich mal vorschlagen", ermahnt er die Runde, als die beiden Gruppen einen Moment lang seiner Führung nicht folgen wollen. Als es um den Notfallplan der Bahn für eine Sperrung der S-Bahn-Stammstrecke geht, sagt ein Bahn-Experte, das Konzept habe er bereits öffentlich erklärt. "Dann erklären Sie es eben jetzt und hier noch einmal", fordert Geißler ihn auf.

Am Ende können die beiden zerstrittenen Gruppen auf eine anstrengende Wanderung durch zahlreiche Klüfte und Abgründe zurückblicken. Sie haben keinen Graben ausgelassen, durch jede Verwerfung sind sie hindurchmarschiert. Angenähert haben sich Befürworter und Gegner dabei aber trotzdem nicht. Die Gegner sagen, die Projektbetreiber konnten keine Beweise dafür erbringen, dass der neue Bahnhof eine höhere Kapazität hat. Und die Befürworter wundern sich, dass die Gegner ihnen nichts glauben. Man ist sich einig, nicht einig zu sein.

© SZ vom 30.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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