Stuttgart 21:Beunruhigende Lektüre

Der Ministerpräsident war nicht erfreut: Kretschmann erfuhr nicht von der Bahn, sondern aus Medien von den Verzögerungen beim Stuttgarter Großprojekt.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Politiker sind häufig überrascht, was sie so alles aus der Zeitung erfahren. Das galt am vergangenen Wochenende im besonderen Maß für die Mitglieder der baden-württembergischen Landesregierung, als sie im Detail von Verzögerungen und Kostensteigerung beim Projekt Stuttgart 21 lasen. "Wir waren ja noch nie so ganz zufrieden mit der Informationspolitik der Bahn", sagte am Dienstag Ministerpräsident Winfried Kretschmann, "da ist wirklich Luft nach oben." Sein grüner Parteifreund Winfried Hermann, der Verkehrsminister, fand die Nachrichten "überraschend". Er sei am Freitag von der Bahn per Mail in groben Zügen über das vertrauliche Papier des Vorstands informiert worden, die Botschaft sei gewesen: alles im Griff. Daran hat Hermann nach der Zeitungslektüre erhebliche Zweifel.

Der neue Knotenpunkt Stuttgart samt Tiefbahnhof kann nach jetzigem Stand erst 2023, zwei Jahre später als geplant, in Betrieb gehen; um Verzögerungen aufzuholen, sind mehr als eine halbe Milliarde Euro als "Gegensteuerungsmaßnahmen" eingeplant. Der Finanzierungsrahmen von 6,5 Milliarden Euro werde eingehalten, heißt es in dem Bericht, der für die Aufsichtsratssitzung der Bahn am 15. Juni erstellt wurde; aber der Rahmen scheint wegen erheblicher Kostensteigerungen bereits ausgeschöpft zu sein. Und alle Erfahrung mit Großprojekten legt nahe, dass dies nicht das letzte Wort ist. Deshalb findet Hermann die Nachrichten auch "beunruhigend".

Erst vor drei Jahren hatte die Bahn die veranschlagten Kosten um zwei auf 6,5 Milliarden erhöht; wer dafür aufkommt, ist umstritten. Die Bahn hat erkennen lassen, dass sie die "Sprechklausel" im Finanzierungsvertrag in Anspruch nehmen will und eine Beteiligung der "Projektpartner" erwartet. Mehr als die zugesagten 930 Millionen Euro will die Landesregierung aber nicht zahlen, so steht das auch im grün-schwarzen Koalitionsvertrag. Letztlich, befürchtet Hermann, werde der Streit wohl vor Gericht landen.

Die Projektgegner in Stuttgart fordern nun wieder vehement einen Abbruch des Projekts. Hermann hat diese Hoffnung seit der Volksabstimmung 2011 aufgegeben. Aber gewisse "Déjà-vu-Erlebnisse" räumt er als S21-Kritiker der ersten Stunde durchaus ein. Schließlich kann er sich noch gut erinnern an die ursprünglich veranschlagten Kosten von vier Milliarden Mark und den angestrebten Eröffnungstermin 2019. Zu Konsequenzen des Landes aus dem Bahn-Papier will sich Hermann erst äußern, sobald er offiziell informiert worden ist; das soll nach der Aufsichtsratssitzung geschehen. Aber er wird in jedem Fall darauf dringen, dass der Bund als Bahn-Eigentümer mehr Verantwortung für das Projekt übernimmt.

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