Stuttgart 21 und der Staat:Die Apfelbaum-Demokratie

Die Demokratie in Deutschland gleicht einem Apfelbaum: alt, gut gewachsen, aber da und dort verdorrt. Die Schlichtung zu Stuttgart 21 ist der Versuch, Defizite zu beheben und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen wieder zu stabilisieren.

Heribert Prantl

Stuttgart 21 ist ein verkehrspolitisches Großprojekt. Die Schlichtung zu Stuttgart 21 ist ein demokratiepolitisches Großprojekt. Womöglich ist das zweite Projekt noch wichtiger als das erste, weil es der Versuch ist, Defizite der repräsentativen Demokratie zu heilen, wie sie in den anhaltend zornigen Massenprotesten gegen den Bahnhofs- und Schnelltrassenbau zum Ausdruck kommen.

Stuttgart 21 - Holzkreuze vor dem Stuttgarter Bahnhof

Holzkreuze vor dem Stuttgarter Bahnhof: Stuttgart 21 ist ein verkehrspolitisches Großprojekt. Die Schlichtung zu Stuttgart 21 ist ein demokratiepolitisches Großprojekt

(Foto: dpa)

Diese Schlichtung soll, im konkreten und extremen Fall Stuttgart, die Störung des Verhältnisses zwischen Bürgern und Staat beheben oder verkleinern. Die Schlichtung soll nicht nur zwischen den verfeindeten Gegnern und Befürwortern von Stuttgart 21 vermitteln; sie soll nicht nur eine einvernehmliche Lösung finden (am besten eine, die zur Volksabstimmung führt). Sie soll auch das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und Behörden wieder stabilisieren; denn diese sind es schließlich, die ein Ergebnis der Schlichtung gegebenenfalls umsetzen und praktizieren müssen. Die Schlichtung ist also etwas anderes als ein Tag der offenen Tür, bei dem die Bürger einmal im Jahr Gelegenheit haben, mit dem Ministerpräsidenten zu reden und das Innere der Macht zu betreten. Sie ist ein Experiment, bei dem Vertreter der internetgestärkten Zivilgesellschaft mit Vertretern der repräsentativen Demokratie gleichberechtigt am Tisch sitzen und verhandeln.

Die Schlichtung ist ein Experiment schon deshalb, weil eine solche Schlichtung in den Gesetzen, die vom Bau von Großprojekten handeln, nicht vorgesehen ist. Auch im Grundgesetz gibt es keine Schlichtung; es gibt dort nicht einmal Bürger. Es gibt dort nur das "Volk", die "Deutschen" oder Subjekte namens "Jeder" oder "Jedermann". Die Staatsgewalt geht laut Grundgesetz "vom Volke aus" und nicht vom Bürger, und sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt - und wenn sie dann ausgeübt ist, ist man ihr unterworfen, nach Maßgabe der Gesetze des öffentlichen Rechts.

Bürger ist der Bürger nach herkömmlichem Verständnis vor allem im bürgerlichen Recht, also dort, wo er, geregelt vom BGB, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, mit seinesgleichen umgeht, Verträge schließt und Geschäfte macht; im Bürgerlichen Recht sind Schlichtungen auch gang und gäbe. Ansonsten ist der Bürger "Staatsbürger", seine Beziehung zum Staat ist nach herkömmlichem Verständnis ein Verhältnis der Unter- und Überordnung.

Im gesamten öffentlichen Recht, dort also, wo der Staat agiert, gibt es den "Bürger" nur ausnahmsweise; es gibt stattdessen Wähler, Betroffene, Beteiligte und Dritte, es gibt Eigentümer, Entschädigungsberechtigte und Entschädigungspflichtige. Und in den meisten Lehrbüchern des Staats- und Verfassungsrechts ist es ähnlich: In den älteren Auflagen findet sich der Bürger nicht einmal im Stichwortverzeichnis; in den mittleren Auflagen findet man ihn als Kollektiv, nämlich als "Bürgerinitiative". In die neueren Auflagen ist der Bürger dann endlich eingewandert, wohl deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht immer öfter vom "Recht des Bürgers" spricht.

Ganz neue demokratische Praxis

In Stuttgart bei den Schlichtungsgesprächen sitzt der ins öffentliche Recht eingewanderte Bürger nun auf einmal am Tisch, dem Ministerpräsidenten und den gewählten Repräsentanten der repräsentativen Demokratie gegenüber. Das ist nicht nur eine demokratietheoretische Sensation, das ist eine ganz neue demokratische Praxis. Es handelt sich um einen Akt der Integration. Am Tisch der Schlichtung verhandeln Bürger mit ihren gewählten Repräsentanten, von denen sie sich aber nicht mehr richtig repräsentiert fühlen. Nach den Regeln der repräsentativen Demokratie hätten die Bürger bis zur nächsten Wahl warten müssen - um dann neue Vertreter zu wählen, zu denen sie mehr Vertrauen haben.

Die Massenproteste sind nicht einfach Kritik an den aktuellen Mehrheiten im Parlament, also ein Angriff auf sie, sondern auch ein Vorgriff auf mögliche neue Mehrheiten, die das Projekt stoppen wollen. Bis dahin aber ist das Projekt Stuttgart 21, das nach den Regeln der repräsentativen Demokratie genehmigt worden ist, womöglich weit vorangetrieben. Das ist das eine.

Das andere ist, dass Ministerpräsident Mappus als Repräsentant der derzeitigen Parlamentsmehrheit ein Interesse daran hat, diese Mehrheit zu behalten. Das ist die Interessenlage, die am Tisch der Schlichtung sitzt. Im Übrigen ist nicht zu vergessen, dass die Protestierer nicht für alle Bürger sprechen können. Es kann in einer Demokratie nicht so sein, dass diejenigen, die am lautesten protestieren, dann einen "Pakt" mit den Regierenden schließen können. Deshalb ist die Volksabstimmung die beste Lösung.

Man kann sich die repräsentative Demokratie in Deutschland als einen Apfelbaum vorstellen: Jahrzehnte alt, eigentlich ganz gut gewachsen, knorrig, aber da und dort verdorrt - und krankheitsanfällig; nicht mehr jeder ist mit der Fruchtqualität zufrieden. Beim Apfelbaum überlegt der Obstgärtner dann, ob und wie er ihn verbessern kann: Er pfropft dem alten Baum neue Zweige ein, "Edelreiser" nennt er sie. Wenn er das ordentlich macht, trägt der Baum ein paar Jahre später ganz neue Früchte, die Ernte wird besser. Idealiter funktionieren Schlichtung, Mediation und Bürgerentscheid auch so: als neue Zweige, als "Umveredelung" der repräsentativen Demokratie.

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