Normalerweise arbeiten die Experten der Schweizer SMA unauffällig im Hintergrund. Die Firma unter der Leitung von Werner Stohler mit Sitz in Zürich berät europaweit Bahngesellschaften, wenn es um die Erstellung von Fahrplänen geht - ein hoch spezialisiertes Geschäft, für das es nur wenige Fachleute gibt. Ende 2010 beschäftigte die SMA 51 Mitarbeiter; der Umsatz des Unternehmens betrug umgerechnet 9,1 Millionen Euro. Die Auditierung der Stresstest-Ergebnisse von Stuttgart 21 im Auftrag der Deutschen Bahn machte die SMA-Gutachter bundesweit bekannt.
SZ: Herr Stohler, Sie haben zusammen mit Heiner Geißler eine Kompromisslösung vorgelegt. Warum haben Sie sich selbst plötzlich in die politische Debatte gestürzt?
Stohler: Vielleicht war ich ein bisschen von der Persönlichkeit Geißlers inspiriert. Ich habe ihn ja erst gegen Ende des Stresstests kennengelernt, als es darum ging, die riesigen Mengen an Ergebnissen zu sichten und einzuordnen.
SZ: Die Gegner von Stuttgart 21 folgern aus dem Stresstest der SMA, der geplante Bahnhof sei kaum leistungsfähiger als der bestehende. Ist der Schluss zulässig?
Stohler: Nein. Wir haben bewiesen, dass der neue Bahnhof in der Spitzenstunde 49 Ankünfte leistet. Das war eine Vereinbarung der Schlichtung: Man hat einfach die Ankünfte des heutigen Bahnhofs genommen und 30 Prozent draufgeschlagen. So kam es zu dieser Zahl 49. Niemand hat die Leistungsfähigkeit des heutigen Kopfbahnhofs so sauber durchgearbeitet, wie wir es beim geplanten Bahnhof gemacht haben.
SZ: Warum legen Sie dann einen Kompromissvorschlag vor?
Stohler: Weil ich im Gespräch mit Geißler gelernt habe, dass sich die Fronten auch nach dem bestandenen Stresstest nicht bewegen würden. Geißler wollte etwas mitnehmen, das die Fronten aufweichen könnte. Das ist der Kombinationsvorschlag, bei dem sich beide Seiten aufeinander zubewegen könnten.
SZ: Die Bahn scheint deswegen über die SMA verärgert zu sein.
Stohler: Das ist bislang aber noch nicht in mein Büro vorgedrungen. Aber ich berufe mich auf Volker Kefer, den Technik-Vorstand der Bahn: Er hat gesagt, die Projektpartner einschließlich der neuen Landesregierung müssten ein neues Verhältnis zueinander finden. Dazu gehört auch, dass man einen Kompromiss nicht sofort ablehnt. Und seien wir ehrlich: Die DB-Spitze kann ja nicht gleich wegen eines 15-seitigen Papers Ja sagen. In dem Papier ist ein Weg aufgezeichnet, auf dem noch Dutzende Hausaufgaben gelöst werden müssen.
SZ: Und was ist der Vorteil dieser Kombilösung aus Tiefbahnhof und Kopfbahnhof?
Stohler: Der Vorteil besteht darin, dass Regional- und Schnellzüge voneinander getrennt werden. Die gegenseitigen Beeinflussungen, wie wir sie im Stresstest untersucht haben, existieren dann nicht mehr. Stuttgart 21 ist aber nicht nur ein Eisenbahnprojekt, sondern ein ganzes Paket, in dem auch städtebauliche Argumente eine Rolle spielen. Dazu kann ich mich aber nicht äußern.
SZ: Kommt denn dieser Vorschlag nicht viel zu spät?
Stohler: Dann könnte man genauso gut sagen, die Schlichtung sei auch zu spät gekommen. Der Kombinationsvorschlag baut ihn hohem Maße auf Stuttgart 21 auf. Ich schließe nicht aus, dass es für Teilbereiche neue Verfahren braucht. Diese gehen aber umso schneller, je sicherer man sein kann, dass es keine Einsprüche dagegen gibt. Und im übrigen hat das jetzige Projekt auch noch ein paar offene Fragen: Für die Anbindung an den Flughafen gibt es noch keine Planfeststellung.
SZ: Doch die Kombi-Variante wurde schon vor Jahren verworfen.
Stohler: Da würde mich interessieren, aufgrund welcher Zahlen und Überlegungen diese Entscheidung gefällt wurde.
SZ: Hatten Sie je mit einem so verfahrenen Projekt wie Stuttgart 21 zu tun?
Stohler: So verbissene Fronten habe ich wahrscheinlich noch nie angetroffen. Ich habe aber Erfahrungen gesammelt, als es um eine Neubaustrecke im Rahmen des Projekts Bahn 2000 in der Schweiz ging. Da standen sich auch zwei Lager sowie eine Variante Nord und eine Variante Süd gegenüber. Man hat dort aus rein funktionalen Überlegungen heraus eine Kompromissformel gefunden. Die ist in der Volksabstimmung durchgegangen.
SZ: Was ist dann in Stuttgart schief gelaufen?
Stohler: Ich kenne den Prozess nicht im Detail. In Frankreich aber gibt es für alle Projekte, die eine gewisse Bausumme überschreiten, das Verfahren der öffentlichen Debatte. Es erfolgt vor allen anderen Schritten der Bewilligung. Eine eigene Behörde ernennt für jedes Projekt einen Verantwortlichen, der mit allen Interessierten einen öffentlichen Dialog führt. Sämtliche Dokumente sind im Internet einsehbar. Wenn Oppositionsgruppen mit einen halbgaren Vorschlag daherkommen, dann kann der Verantwortliche einen Experten zuziehen und Expertisen erstellen lassen. Schließlich wird eine Empfehlung an den Minister abgegeben. Das ist ein faszinierendes Verfahren, das sich auf jede repräsentative Demokratie übertragen lässt.