Süddeutsche Zeitung

Stuttgart 21:Grubes Gesetz

Reichen 6.5 Milliarden Euro? Das Prestigeprojekt wird immer teurer. Der Bahnchef möchte nun einen Teil der Kosten auf seine Partner abwälzen - und könnte damit Erfolg haben.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen. Die uralte Lebensweisheit, bekannt als Murphys Gesetz, steht zwar nicht in den Verträgen des Projekts Stuttgart 21, aber sie entspricht voll und ganz seinem Geist. Ziemlich genau fünf Jahre nach dem baden-württembergischen Volksentscheid pro S21, einem Meilenstein im Streit um den Tiefbahnhof, macht nun ein Zitat von Bahnchef Rüdiger Grube die Runde, gefallen offenbar auf einer Führungskräftetagung: "Ich hätte Stuttgart 21 nicht gemacht." Das Projekt koste die Bahn zu viel Geld. Für langjährige Gegner von Stuttgart 21 wird die Aussage von Grube, der seit 2009 im Amt ist, klingen wie blanker Hohn, zumal zeitgleich bekannt wurde: Rüdiger Grube wird die Projektpartner schon bald verklagen lassen, um Geld einzutreiben.

Die Bahn will das Land sowie die Stadt, die Region und den Flughafen Stuttgart zwingen, sich an den Kostensteigerungen zu beteiligen. Momentan geht es um zwei Milliarden Euro, die die Bahn vorfinanziert, aber wer will schon garantieren, dass dies wirklich das letzte Wort ist? Mitte der Neunzigerjahre war in einer Rahmenvereinbarung noch von 2,6 Milliarden die Rede gewesen, Gesamtkosten wohlgemerkt. Seither geht es stetig bergauf, bis zum derzeitigen Stand von 6,5 Milliarden. Unwägbar sind offenbar die Kosten des komplizierten Tunnelbaus.

Der Streit ums Geld entzündet sich an der sogenannten Sprechklausel in dem 2009 gemeinsam geschlossenen Finanzierungsvertrag. "Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Gespräche auf", heißt es in dem Papier reichlich unbestimmt. Mit 4,5 Milliarden Euro Gesamtkosten kalkulierte man seinerzeit, bestehend aus drei Milliarden "Regelfinanzierung" und einem "Risikotopf" von 1,5 Milliarden. Mit dieser Summe hantierte die Bahn auch vor dem Volksentscheid am 27. November 2011. Hinterher erhöhte sie den Finanzrahmen dann um weitere zwei Milliarden. Auch die sind mittlerweile ausgeschöpft.

Als der Bahn-Aufsichtsrat im Jahr 2013 die zusätzlichen Milliarden genehmigte, beauftragte er den Vorstand, einen Teil des Geldes von den Partnern zu holen. Die Landesregierung interpretiert die Sprechklausel allerdings in dem Sinne, dass man sehr gerne miteinander sprechen könne, was man nun seit fast drei Jahren auch tut - aber zahlen werde man auf gar keinen Fall mehr als die vereinbarten 930 Millionen. Zudem vertritt das Land laut Bahn die Ansicht, mit der Sprechklausel seien sinngemäß auch die restlichen drei Projektpartner gemeint. Deshalb will die Bahn gegen alle vier Partner klagen, und zwar sofort. Andernfalls könnten die Ansprüche verjähren. Die grün-schwarze Regierung wird am Dienstag über die drohende Klage beraten, mit einem Einlenken ist nicht zu rechnen.

Die CDU hatte in den Koalitionsverhandlungen Kompromissbereitschaft erkennen lassen, doch die Grünen setzten sich durch: Es gibt keinen Euro mehr für S21. Sie hatten bei der Regierungsübernahme 2011 ganz aus dem Projekt aussteigen wollen, wurden vom damaligen Koalitionspartner SPD aber zur Volksabstimmung gedrängt. Nils Schmid, seinerzeit SPD-Chef und stellvertretender Ministerpräsident, gibt sich nun überzeugt, dass der "Kostendeckel" nach wie vor gilt und das Land ungeschoren davonkommt. Aber so sicher sind nur wenige in der baden-württembergischen Landespolitik.

Optimistische Bahn-Manager hoffen, zwei Drittel der Zusatzkosten auf die Partner abwälzen zu können, andere sind weniger zuversichtlich. Aber dass die Partner grundsätzlich zahlen müssen, davon geben sich bei der Bahn alle überzeugt: Das Projekt sei im Sinne von allen vier Partnern in Angriff genommen worden. So sei es zu Beginn ausdrücklicher Wunsch der Stadt Stuttgart gewesen, den Tiefbahnhof in der Innenstadt zu bauen, mit allen Risiken eines Tunnelprojekts, statt wie von der Bahn favorisiert in Bad Cannstatt.

Neue Heimat für den Juchtenkäfer

Die Stuttgart-21-Bauherrin Deutsche Bahn hat für den streng geschützten Juchtenkäfer zwei neue Bäume im Stuttgarter Schlossgarten gepflanzt. Die beiden Platanen sollen zwei andere Bäume ersetzen, die wegen Bauarbeiten im Februar 2016 gefällt worden waren. Wie die Bahn in Stuttgart mitteilte, sind die neuen Bäume 25 bis 30 Jahre alt, 12 bis 14 Meter hoch und werden künftig Höhlen bilden, in die die Käfer einziehen könnten. Da dies noch nicht so weit ist, wird die Bahn im Frühjahr Nistboxen anbringen. Nach Angaben der Bahn hätte das Versetzen der ursprünglichen Bäume rund drei Millionen Euro gekostet und den Park geschädigt. Die jetzige Lösung mit Großbäumen aus einer Stuttgarter Baumschule koste nur 100 000 Euro. Das Eisenbahnbundesamt hatte die Fällung der Bäume gestattet, in die sich noch keine Käfer eingenistet hatten. Die Bahn sollte für Ersatzbäume sorgen. 2010 mussten wegen des Käfers zeitweise die Baumfällarbeiten ausgesetzt werden. Zeitweise gab es um Juchtenkäferbäume Schutzzäune. Damals hieß es, dass im Park 440 Exemplare siedelten. dpa

Aber ist Stuttgart 21 nicht delegitimiert, weil dem Volk vor fünf Jahren ein Projekt über 4,5 Milliarden zur Abstimmung vorgelegt wurde? Eine Volksabstimmung habe im Prinzip keinen Einfluss auf bestehende Verträge, heißt es bei der Bahn. Die Volksabstimmung sei deshalb von vornherein rechtlich fragwürdig gewesen. Zudem hätten die Projektgegner seinerzeit auf mögliche Kostensteigerungen hingewiesen. Das Risiko sei den Bürgern also bekannt gewesen.

Bis zu fünf Jahre kann es nach Einschätzung der Projektpartner dauern, bis das Gericht in dem Fall entscheidet. Mit dem Urteilsspruch muss sich also möglicherweise erst die nächste Landesregierung befassen. "Wir sind mit der Bahn einig, dass die Klage die Zusammenarbeit mit der DB bei Bahnprojekten generell und bei Stuttgart 21 nicht stören darf", lässt nun der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann wissen. Vor wenigen Wochen noch hatte Hermann die Bahn noch vor einer Klage gewarnt. Möglicherweise ist auch er mittlerweile froh darüber, einen Teil der Verantwortung für das Murphy-Projekt S21 an Richter delegieren zu können.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2016
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