Süddeutsche Zeitung

Stuttgart 21 ein Jahr nach dem "Schwarzen Donnerstag":"Als ob sich der Mörder selbst freispricht"

Dietrich Wagner ist das Gesicht des Widerstands gegen Stuttgart 21. Das Bild seiner blutenden Augen nach dem Einsatz von Wasserwerfern ging vor einem Jahr um die Welt. Im Vorgehen der Polizei am 30. September 2010 sieht er eines der schlimmsten Verbrechen, das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg begangen habe. Trotz seiner Erblindung demonstriert er weiter gegen das Bahnhofsprojekt.

Roman Deininger, Stuttgart

Auf den "Montagsdemos" gegen Stuttgart 21 ist Dietrich Wagner immer dabei, auch wenn er mal - was nicht oft vorkommt - persönlich verhindert sein sollte. Da sind Männer, die sein Foto auf dem T-Shirt tragen, und junge Mädchen, die sich die Augen blutig geschminkt haben.

Der 67-jährige Rentner ist zum Gesicht des Widerstands geworden, ein Gesicht, das der 16 Bar starke Strahl eines Wasserwerfers entstellte, am 30. September vor einem Jahr. Der Strahl zerriss seine Augenlider und zerstörte fast gänzlich Linsen und Netzhaut; nur auf dem rechten Auge sind ihm acht Prozent Sehkraft geblieben. Die Bäume des Schlossgartens, die er schützen wollte damals, sind heute braun-grüne Punkte für ihn.

Als sie ihn aus der Augenklinik entließen, ging er sofort wieder demonstrieren. Seitdem trifft man Dietrich Wagner überall, wo sich Protest gegen den Tiefbahnhof regt. Sogar die Fahrrad-Demos lässt er nicht aus, er sitzt dann halt hinten auf dem Tandem. Auch bei den morgendlichen Sitzblockaden der Baustellen-Zufahrt ist er meistens dabei.

Nach einer Weile fragen die Polizisten die Blockierer dann immer, ob sie freiwillig aufstehen. Drei Mal fragen sie, bevor sie die Demonstranten wegtragen. Wagner ist fast jedes Mal der Letzte, an den sie herantreten. Und freiwillig steht er nie auf. "Geht das so, Herr Wagner?", erkundigen sich die Beamten dann auf dem Weg zum Polizeibus. Und Herr Wagner sagt: "Danke, geht gut."

Am Donnerstagmittag ist der studierte Ingenieur in kurzen Jeans in den Schlossgarten gekommen, in der Herbstsonne spricht er vor Journalisten über das, was ihm widerfahren ist. Er sagt: Er sehe im 30. September 2010 eines der schlimmsten Verbrechen, "das der gesamtdeutsche Staat nach dem Zweiten Weltkrieg begangen hat". Die Sache sei "langfristig und vorsätzlich" geplant gewesen, er wisse aus verlässlicher Quelle, "dass die amerikanischen Besatzer im Großraum Stuttgart drei Tage vorher informiert wurden". Er halte dem Staat lediglich zugute, dass "kein Einsatz von Schusswaffen getätigt wurde". Der Moderator sagt, Wagner solle jetzt doch bitte langsam zum Ende kommen.

Dann kritisiert Wagners Rechtsanwalt, wie zügig die Stuttgarter Staatsanwaltschaft nach dem 30. September gegen die Demonstranten vorgegangen sei, während die Verfahren gegen angezeigte Polizisten systematisch verschleppt würden. Dietrich Wagner sagt: "Das ist, wie wenn sich der Mörder selbst freispricht."

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Quelle:
SZ vom 30.09.2011/lyb
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