Süddeutsche Zeitung

Stuttgart 21:Dossier des grünen Wunschtraums

Es liest sich wie ein Flugblatt der Tiefbahnhofsgegner: Das Verkehrsministerium hat ein internes Papier zu Stuttgart 21 vorgelegt, das die Finanzierung des Projekts infrage stellt. Schafft dieses Dokument, woran die Stuttgarter Wutbürger gescheitert sind?

Von Roman Deininger, Stuttgart, und Daniela Kuhr, Berlin

Winfried Kretschmann würde jetzt plangemäß gerne darüber reden, wie dramatisch sich die Medienkompetenz baden-württembergischer Kinder unter Oberaufsicht seiner Regierung schon verbessert hat. Er darf bloß nicht. Die Journalisten im Moser-Saal des Stuttgarter Landtags interessiert am Dienstagmittag nur, wie dramatisch sich in den vergangenen Stunden die Chance auf Verwirklichung eines grünen Wunschtraums verbessert hat: das Aus für Stuttgart 21.

Am Morgen ist ein internes Dossier des Bundesverkehrsministeriums zu S 21 bekannt geworden, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Es ist eine 15-seitige Handreichung für die drei Vertreter des Bundes im Bahn-Aufsichtsrat. Aber es liest sich passagenweise wie ein Flugblatt der Tiefbahnhofsgegner. Da heißt es etwa: "Die Argumente, eine weitere Finanzierung (des Projekts) nicht abzulehnen, sind mit Abstand zu schwach." Auf Deutsch: Man müsse im Grunde Nein sagen. Mit der Fertigstellung des Baus sei statt 2020 erst 2024 zu rechnen. Die von der Bahn kürzlich kalkulierten Mehrkosten seien "nur teilweise belastbar und keineswegs abschließend". Wenn nun also selbst die Bundesregierung zweifelt, das ist um genau zwölf Uhr mittags die Frage an den grünen Ministerpräsidenten - steht S 21 dann nicht auf der Kippe?

"Wir eröffnen jetzt keine Ausstiegsdebatte"

Kretschmann räuspert sich ein paar Mal, zwischendrin sagt er, er könne "das Dossier und seinen Charakter nicht beurteilen". Für seine Regierung gelte weiterhin die Volksabstimmung von November 2011: "Das Volk von Baden-Württemberg hat entschieden", und zwar für die Vergrabung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Kretschmann sagt: "Wir eröffnen jetzt keine Ausstiegsdebatte." Diesen Satz wiederholt er noch drei Mal, als Antwort auf wechselnde Fragen: "Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte." Aber das muss Kretschmann, ein Tiefbahnhofsgegner der ersten Stunde, auch nicht. Das haben am Dienstag längst andere für ihn getan.

Noch nie ist Stuttgart 21 so breit und so massiv in Frage gestellt worden, aus allen politischen Lagern. Nicht nur im Verkehrsministerium glauben nicht mehr alle an das Projekt. Auch im Aufsichtsrat der Bahn haben offenbar einige den Glauben verloren - in jenem Gremium, das über die Fortführung des Projekts entscheiden wird. Dann ist da noch das grüne Doppel in Baden-Württemberg, Kretschmann und Fritz Kuhn, der neue Oberbürgermeister von Stuttgart - diese beiden haben ohnehin nie geglaubt. Wer bleibt also noch?

Wohl die Bundeskanzlerin, Angela Merkel hat ihren Namen mit dem Bahnhofsbau zu Stuttgart verbunden. Wohl der Finanzminister, Wolfgang Schäuble stammt aus dem Südwesten. Und wohl auch Peter Ramsauer, der am Dienstagmorgen eiskalt erwischt wird. Der Bundesverkehrsminister weilt gerade mit einer Delegation in Bagdad, wo er der deutschen Wirtschaft einige Türen öffnen möchte. Als er morgens die Agenturmeldungen liest, wonach sich der Bund von Stuttgart 21 distanziere, traut er seinen Augen kaum. "Klar gibt es im Moment viele kritische Fragen, die der Bund an die Bahn hat", sagt ein enger Mitarbeiter von Ramsauer. "Und die müssen sauber beantwortet werden, auch das ist klar."

Aber von einem "Abrücken" des Bunds, wie es die Schlagzeilen nahelegten, hört Ramsauer in diesem Moment zum ersten Mal. Und so beeilt sich der CSU-Politiker mit einer Klarstellung. "Das ist Quatsch", sagt er in Bagdad zu einem Fernsehjournalisten des ZDF. Das Papier sei auf einer "unteren Ebene meines Ministeriums" erarbeitet worden. "Der Bund steht zu Stuttgart 21. Finanzzusagen werden eingehalten." Zusagen für weitere Mittel würden derzeit aber nicht erteilt.

Das sind zugleich gute und schlechte Nachrichten für die Bahn. Gut wird man es im Konzern sicher gefunden haben, dass sich der Verkehrsminister klar zu dem Projekt bekannt hat. Denn im Bahntower am Potsdamer Platz hatte am Morgen große Aufregung geherrscht angesichts der neuen Nachrichten. Schlecht für die Bahn ist allerdings, dass sich nach wie vor weit und breit keine Lösung für ihr größtes Problem abzeichnet: die Frage, wie die Mehrkosten in Höhe von womöglich 2,3 Milliarden Euro nun eigentlich finanziert werden sollen. Stadt, Land und Bund jedenfalls lehnen eine Beteiligung bislang ab. "Die Bahn muss verbindlich erklären, dass sie die Mehrkosten trägt", sagt Kretschmann am Mittag. "Ich bin nicht bereit, das Risiko eines Debakels und Desasters einzugehen wie beim Berliner Flughafen."

Das Prestigeobjekt wird zum Imageschaden

In Berlin ist zur gleichen Zeit ein Teil des Bahn-Aufsichtsrats zu einem "Workshop" zusammengekommen. Thema: die Kostenexplosion bei Stuttgart 21. Irgendwann in den nächsten Monaten müssen die Konzern-Kontrolleure entscheiden, ob sie der Bitte von Bahnchef Rüdiger Grube stattgeben, das Projekt mit 1,1 zusätzlichen Milliarden zu retten - vorerst zumindest. Am Stuttgarter Hauptbahnhof klafft eine hässliche Baustelle, auf der nicht gebaut wird - das Prestigeprojekt wird zum Imageschaden für das Unternehmen.

Im Ministeriumsdossier steht: "Der Vorstand der DB AG soll im Workshop die Chance erhalten, seinen Vorschlag nochmals zu erläutern und weitere Gründe für die Verwerfung von Alternativen darzulegen. Die bisher angeführten Argumente greifen nicht." Im Übrigen seien die von der Bahn vorgelegten Unterlagen "keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung des Aufsichtsrats". Das Dossier, hört man nach der Sitzung, habe eine große Rolle gespielt. Die Diskussion sei sehr sachlich verlaufen - und es sei völlig offen, zu welchem Schluss der Aufsichtsrat gelangt.

Die 2500 Demonstranten, die am Montagabend am Stuttgarter Marktplatz an der wöchentlichen "Montagsdemo" gegen das Projekt teilnehmen, sind da schon weiter. Als Hauptredner ist Toni Hofreiter geladen, bayerischer Grüner, Verkehrsausschuss-Vorsitzender im Bundestag. Hofreiter ruft: "Die fachlich einzig richte Entscheidung wäre, jetzt auszusteigen." Seine Zuhörer jubeln. 2500 Menschen auf der Straße an einem kühlen, feuchten Februarabend - auch daran kann man die neue Hoffnung der Tiefbahnhofsgegner festmachen. Nach der verlorenen Volksabstimmung waren es zeitweilig nur noch ein paar hundert gewesen.

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SZ vom 06.02.2013/soli
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