Widerstand der Wähler:Die Protest-Demokratie

Zwischen der Notwendigkeit, langfristig zu planen und dem Zwang, schnell auf Stimmungen zu reagieren, beweist sich unsere Demokratie erstaunlich gut.

Gustav Seibt

Die Idee für das Großvorhaben Stuttgart 21 geht auf einen Vorschlag aus dem Jahr 1988 zurück. Zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt wurde es im Jahr 1994. Seither laufen die Planungen, deren technische, städteplanerische, juristische, finanzielle, politische Komplexität sich kaum ein Nichtbeteiligter realistisch vorstellen kann.

'Stuttgart 21'-Gegner protestieren am Brandenburger Tor

"Stuttgart 21"-Gegner protestieren am Brandenburger Tor.

(Foto: dapd)

Das Projekt musste nicht nur ingenieurtechnisch bis ins Kleinste vorbereitet werden; es musste auf Hunderten von Stadtrats-, Landtags- und Ausschusssitzungen in alle Richtungen debattiert und austariert werden. Allein das Planfeststellungsverfahren musste mehr als zehntausend Einsprüche berücksichtigen.

Während dieses zähen administrativ-politischen Vorgangs, der durchaus von Presseberichterstattung, Wahlkämpfen und Bürgerprotesten begleitet war, wurden in Stuttgart, in Baden-Württemberg und in der Bundesrepublik Deutschland vier Mal Legislaturperioden mit ordnungsgemäßen Wahlen eingeleitet.

Nun eskaliert ein Streit zwischen "der Politik" und protestierenden Bürgern im Zentrum der Stadt Stuttgart, der so ausweglos erscheint, dass man einen in keiner Verfassung vorgesehenen Schlichter bestellt, mit ganz ungewissem Ausgang.

Was ist passiert? Es sei zu wenig kommuniziert worden, lautet derzeit eine von allen Seiten verwendete Formel; die Bürger seien nicht mitgenommen worden. Das wird so sein, sonst wäre es nicht zu den "Bildern" gekommen, die jetzt keiner mehr sehen will, um die nächste Formel dieser Tage zu zitieren.

Eine moralisch höchst erregte Menge traf auf eine eselhaft starre, im Nachhinein sich auch noch autoritär gerierende Polizei; von Berlin aus, mit seinen jährlichen Chaostagen um den 1. Mai, kann man darüber nur bitter lachen: Sie werden noch viel lernen müssen in Stuttgart. Unterdessen taucht aus dem pietistischen Kulturboden Schwabens unter den Protestierenden auch schon wieder jener Typ fanatischer Unschuldslämmer auf, die man aus der Spätphase des deutschen Herbstes, den Nachwehen der Terroristenzeit, noch in leidiger Erinnerung hat. Es kommen harte Zeiten für die Demokratie in Baden-Württemberg.

Die Wucht immer neuer Probleme

Zu wenig kommuniziert? Wer einmal eine Woche lang allein die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in diesem Land verfolgt - jüngere Bürger tun das kaum noch -, der sieht eigentlich ständig Politiker beim Kommunizieren. Im Frühstücksfernsehen stellen sie sich schäkernden Moderatorenpärchen, in den Mittagsmagazinen sind sie ebenso präsent wie in Tagesthemen und Heute-Sendungen, und spät abends müssen sie oft genug noch vor den Wohlfahrtsausschüssen der politischen Talkshows erscheinen.

Es wird so viel kommuniziert, dass man sich manchmal fragt, wann Berufspolitiker eigentlich Zeit haben, sich mit ihren irrwitzig komplexen Sachfragen und Entscheidungen zu befassen.

Bombardiert mit Bürgermeinungen

Im Übrigen musste seit 1994 noch allerlei anderes kommuniziert werden als "Stuttgart 21". Es ging dabei unter anderem um die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Reaktion auf den 11. September 2001, die Einführung des Euro, das Nein zum Irak-Krieg, die Hartz- Reformen, zuletzt um eine katastrophale, blitzartiges Handeln erzwingende Finanzkrise. Daneben liefen Dauerprobleme wie der Aufbau Ost oder, seit einigen Jahren, unsere Integrationsdebatten weiter. Es gab ein paar Jahrhundertfluten an Deutschlands Flüssen. Von Kleinigkeiten wie dem Umzug der Hauptstadt von Bonn nach Berlin darf man in diesem Zusammenhang gar nicht reden.

All das, diese Wucht immer neuer Probleme und Krisen, der oft barbarische Zeitdruck, unter den die Politik immer wieder geriet, musste bewältigt werden während eines technisch-medialen Wandels, der die Kommunikationsformen und Zeitrhythmen politischen Handelns so radikal veränderte, wie seit den Erfindungen von Telegraphie, Telefon und Radiowellen nicht mehr.

Die Rückkoppelungen - Kommunikationen - zwischen Politik und Öffentlichkeit finden im Minutentakt statt. Spitzenpolitiker rufen auf ihren Mobiltelefonen viertelstündlich die Internetseiten von Spiegel-Online oder Bild.de auf, irgendwo läuft immer eine Nachrichtensendung mit.

Man will, so ist von vielen Seiten zu hören, die bürgerschaftliche Beteiligung, ja plebiszitäre Elemente im politischen Prozess stärken. Mit den plebiszitären Elementen ist es aber schon jetzt ganz gut bestellt. Auf "Bilder" wird ohnehin umgehend reagiert. Vor allem aber wird die Echtzeitmaschine Politik permanent in Umfragewerten, Deutschlandtrends, Politbarometern, Sympathie- und Antipathiekurven gespiegelt, ganz abgesehen davon, dass in einem föderalen Land alle nasenlang wichtige Wahlen stattfinden. Die Politik wird bombardiert mit Bürgermeinungen und -stimmungen. Aber manchmal muss es eben durchgesetzt werden, weil es verfassungsrechtliche, finanzielle oder internationale Zwänge gibt. Dann wird weiterkommuniziert.

Das Wunder der Verfassung

Laut Umfragen glauben 98 Prozent der Bürger, dass sich die Politik von der Lebenswelt der normalen Menschen entfernt hätte. Das dürfte stimmen; wahrscheinlich können sich nur ganz wenige Menschen den barbarischen Druck vorstellen, unter dem Berufspolitiker ihre höchst folgenreichen und weittragenden Entscheidungen treffen müssen.

Das sind, vereinfacht skizziert, die Bedingungen, unter denen heute die beständig erneuerungsbedürftige, riesenhafte und verzweigte Infrastruktur des Industriestaats Deutschland aufrechterhalten und weiterentwickelt, die Energie langfristig gesichert und zugleich die kostbare natürliche Umwelt geschützt werden muss, bei immer laufendem wirtschaftlichen Betrieb.

Dies muss geleistet werden mit den Instrumenten eines Verfassungsrechts, dessen Wurzeln tief ins 18. und frühe 19. Jahrhundert reichen, als es noch kaum eine öffentliche Meinung gab, und dessen konkrete Ausgestaltung vor allem auf die totalitären Erfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts reagierte.

Zwischen den langfristigen und langwierigen Anforderungen einer beweglichen, längst globalisierten Wirtschaft einerseits und dem Sekundentakt der öffentlichen Rückkoppelungen andererseits behauptet sich das eingespielte Modell unserer repräsentativen Demokratie erstaunlich gut. Fast könnte man es ein Wunder nennen, das geschichtlich neue und unerhörte Wunder der freiheitlichen Verfassung. Sie wird im Übrigen ganz zwangsläufig auch im Streit um Stuttgart 21 schon in Kürze den Ausschlag geben.

Denn wenn die Mission des Schlichters Heiner Geißler scheitert, dann wird die Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr 2011 ganz von selbst zur Abstimmung über dieses Großprojekt; sie wäre übrigens auch ohne die Ankündigung von Angela Merkel dazu geworden. So ist Demokratie. Die entscheidende Kommunikation findet an den Wahlurnen statt. Wer glaubt, mit den politischen Gegnern von Stuttgart 21 ließe sich künftig besser regieren, wird nach dem Wahltag schnell eines Besseren belehrt werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: