Großbritannien:Auftrag Unabhängigkeit

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon sieht ihren Wahlsieg als "klares Mandat" für eine neue Volksabstimmung und Premier Boris Johnson in der Pflicht, diese auch zuzulassen.

Von Alexander Mühlauer, London

Die Scottish National Party (SNP) hat die Regionalwahlen in Schottland klar gewonnen, aber ihr Ziel einer absoluten Mehrheit nicht erreicht. Die Partei von Regierungschefin Nicola Sturgeon wird im Parlament in Edinburgh 64 der insgesamt 129 Sitze einnehmen. Die schottischen Separatisten liegen damit deutlich vor den Konservativen mit 31 Sitzen. Die SNP strebt eine Koalition mit den Grünen an, die über acht Sitze verfügen. Im Gegensatz zu den Tories und der Labour Party treten beide Parteien für eine Neuauflage des Unabhängigkeitsreferendums von 2014 ein. Sturgeon wertete den Wahlausgang als ein "klares demokratisches Mandat" für eine Volksabstimmung in dieser Legislaturperiode.

Die schottische Regierungschefin erhöht damit den Druck auf die britische Regierung, die einem rechtskräftigen Referendum zustimmen müsste. "Angesichts dieses Ergebnisses gibt es keine demokratische Rechtfertigung für Boris Johnson oder irgendjemand anderen, das Recht der schottischen Bevölkerung, unsere Zukunft selbst zu wählen, zu blockieren", sagte Sturgeon. Sollte London ein Referendum ablehnen, würde dies zeigen, dass die britische Regierung das Vereinigte Königreich "erstaunlicherweise nicht mehr als freiwillige Union der Nationen betrachtet".

Boris Johnson weist die Forderung zurück. Derzeit wäre ein Referendum "unverantwortlich und verwegen"

Der britische Premierminister Boris Johnson hatte bereits vor der Auszählung aller Stimmen bekräftigt, dass er eine Volksabstimmung ablehnt. "Ein Referendum im derzeitigen Kontext wäre unverantwortlich und verwegen", sagte er dem Daily Telegraph. Für die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs stehe nun die Erholung von der Pandemie im Vordergrund. Am Samstag schrieb der Premier einen Brief an Sturgeon, in dem er sie zu einem gemeinsamen Treffen einlud, an dem auch die Regierungschefs aus Wales und Nordirland teilnehmen sollen. "Es ist meine leidenschaftliche Überzeugung, dass den Interessen der Menschen im Vereinigten Königreich und besonders der Menschen in Schottland am besten geholfen ist, wenn wir zusammenarbeiten", schrieb Johnson. Der Nutzen dieser Kooperation habe sich besonders in der Corona-Krise gezeigt - ein Verweis auf die erfolgreiche Impfkampagne der britischen Regierung.

Experten sehen Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit etwa auf Augenhöhe. "Die einzige sichere Schlussfolgerung, die man aus diesem Wahlergebnis ziehen kann, ist, dass Schottland in dieser Frage tatsächlich gespalten ist", sagte der Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow. Der Sozialwissenschaftler Jan Eichhorn von der Universität Edinburgh geht davon aus, dass etwa 45 Prozent der Schotten klar für die Unabhängigkeit seien. Für ein eindeutiges Ergebnis müsse die SNP daher weitere zehn Prozent überzeugen. "Nicola Sturgeon wird erst ein Referendum durchführen, wenn sie der Meinung ist, dass sie es gewinnen kann", meint Eichhorn.

Notfalls will Sturgeon vor das höchste Gericht Großbritanniens ziehen

Im Jahr 2014 hatten 55 Prozent der Schotten für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Aus Sicht der Unionisten ist die Frage seither eindeutig geklärt. Die SNP sieht das allerdings entschieden anders, nachdem eine deutliche Mehrheit der Schotten beim Brexit-Referendum 2016 für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt hatte. Sturgeons erklärtes Ziel ist es daher, bis Ende 2023 ein zweites Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Doch ohne die Zustimmung der britischen Regierung wäre dies nicht rechtens. Notfalls will die SNP deshalb vor den Supreme Court des Vereinigten Königreichs ziehen.

Bei den Regionalwahlen in Großbritannien, die am Donnerstag stattfanden und deren Stimmauszählung sich wegen der Pandemie verzögerte, wurde nicht nur Sturgeon in ihrem Amt als First Minister bestätigt. In Wales bleibt Mike Drakeford von der Labour Party Regierungschef. Seine Partei erreichte 30 der insgesamt 60 Sitze im Parlament in Cardiff - und damit einen mehr als bei der letzten Wahl im Jahr 2016.

Bei den englischen Kommunalwahlen musste Labour hingegen massive Verluste hinnehmen, vor allem im Norden des Landes. Parteichef Keir Starmer entmachtete daraufhin seine Stellvertreterin Angela Rayner. Sie verliert ihr Amt als Generalsekretärin und Wahlkoordinatorin. Laut britischen Medienberichten ist in der Labour Party ein Machtkampf ausgebrochen. So distanzierte sich etwa Andy Burnham, der wiedergewählte Bürgermeister von Greater Manchester, sehr deutlich von Starmer. Es seien "erhebliche Veränderungen" nötig, die Partei müsse weg von ihrem auf London zentrierten Fokus. In der britischen Hauptstadt selbst wurde Labour-Mann Sadiq Khan als Bürgermeister wiedergewählt. Einer der wenigen Lichtblicke für die Sozialdemokraten.

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