Schottland:"Mit meinem Herzen und meinem Verstand weiß ich, dass dies der richtige Zeitpunkt ist"

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Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland, hat zuletzt deutlich an Autorität und Beliebtheit verloren. (Foto: Jane Barlow/dpa)

Schwerer Schlag für die Unabhängigkeitsbewegung: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon tritt überraschend zurück. Was sind die Gründe und wer folgt ihr jetzt?

Von Alexander Mühlauer, London

Die schottische Unabhängigkeitsbewegung hat ihre Anführerin verloren: Nicola Sturgeon kündigte am Mittwoch völlig unerwartet ihren Rücktritt als Regierungschefin und Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP) an. Sie wisse, dass diese Entscheidung für viele überraschend und für manche zu früh komme, sagte sie bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz in Edinburgh. Teil guter Führung sei es aber, instinktiv zu wissen, wann man abtreten sollte. "Mit meinem Herzen und meinem Verstand weiß ich, dass dies der richtige Zeitpunkt ist", sagte Sturgeon.

Die 52-Jährige hatte im November 2014 als erste Frau das Amt als "First Minister" übernommen. Sie ist damit die am längsten amtierende schottische Regierungschefin. Sturgeon kündigte an, die Amtsgeschäfte solange fortzuführen, bis ihre Nachfolge entschieden sei. Sie zeigte sich davon überzeugt, dass die SNP jemanden auswählen werde, der Schottland in die Unabhängigkeit führen werde. Der Kampf befinde sich aus ihrer Sicht "in der finalen Phase".

Auf die Frage, warum sie dann gerade jetzt aussteige, verwies Sturgeon vor allem auf körperliche und psychische Belastungen, die sie als Regierungschefin erfahren habe. Insbesondere während der Corona-Pandemie sei ihr die für den Job nötige Energie immer mehr abhanden gekommen. Seit Jahresanfang habe sie mit sich gerungen, ob sie weitermachen solle. Die Frage, ob sie noch die Richtige für ihre Partei, ihr Land und den Kampf für die Unabhängigkeit sei, sei immer schwieriger mit "Ja" zu beantworten gewesen, sagte Sturgeon. "Ich bin zu der schwierigen Entscheidung gekommen, dass es nicht mehr so ist."

Sturgeon hat zuletzt deutlich an Autorität eingebüßt

Als Regierungschefin hatte Sturgeon zuletzt deutlich an Autorität eingebüßt. Vor allem ihre Strategie, die britische Unterhaus-Wahl im kommenden Jahr de facto zu einer Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit zu erklären, war in ihrer Partei umstritten. Viele SNP-Mitglieder äußerten Kritik an Sturgeons Kurs, beim Parteitag im März sollte darüber beraten werden.

Auch in der Bevölkerung war Sturgeon zuletzt längst nicht mehr so beliebt wie sie es einmal gewesen ist. In einer Umfrage sprachen sich in dieser Woche 42 Prozent der Befragten dafür aus, dass sie sofort zurücktreten sollte. Als Hauptgrund wurde ihr Vorhaben eines sogenannten Gender-Gesetzes genannt. Demnach soll die Pflicht für ein medizinisches Gutachten als Voraussetzung für eine Änderung des Geschlechtseintrags entfallen. Das schottische Regionalparlament hat dem Gesetz zwar bereits zugestimmt, aber die britische Zentralregierung legte ein Veto ein. Kritiker wie die "Harry Potter"-Autorin Joanne K. Rowling warnten, Männer könnten die vereinfachten Regelungen ausnützen, um aus sexuellen Motiven in Bereiche vorzudringen, die Frauen vorbehalten sind, wie etwa Damenumkleiden oder -toiletten.

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In der öffentlichen Debatte sorgte in Schottland vor allem der Fall einer Transfrau für Aufruhr, die noch vor ihrer Geschlechtsanpassung als Mann zwei Frauen vergewaltigt hatte. Nach massiver Kritik entschied Sturgeon, die Sexualstraftäterin nicht wie ursprünglich vorgesehen in einem Frauengefängnis unterzubringen. Sturgeon war bis zuletzt nicht in der Lage, ihre Haltung öffentlich klar zu machen. So wollte sie etwa die Frage, ob alle Transfrauen Frauen seien, nicht eindeutig beantworten. In ihrer Pressekonferenz sagte Sturgeon, dass diese Kontroverse jedoch nichts mit ihrem Entschluss zu tun habe, das Amt als Regierungschefin aufzugeben.

Mit dem Rücktritt von Sturgeon steht die SNP nun vor schwierigen Entscheidungen. Da ist zunächst die Frage, wer ihr als Parteivorsitzende und First Minister nachfolgt. Im Gespräch sind ihr bisheriger Stellvertreter John Swinney, Finanzministerin Kate Forbes, Gesundheitsminister Humza Yousaf und Angus Robertson, der Minister für Verfassung, externe Angelegenheiten und Kultur. Wer auch immer es wird, eines steht schon jetzt fest: Der Kampf für die Unabhängigkeit wird auch ohne Sturgeon das politische Ziel der SNP bleiben.

Einfach dürfte das allerdings nicht werden. Erst im November hatte der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs entschieden, dass die schottische Regionalregierung ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nicht ohne Zustimmung der britischen Zentralregierung in London abhalten darf. Beim ersten Unabhängigkeitsreferendum 2014 hatten sich die Schottinen und Schotten mit 55 Prozent zu 45 für den Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden. Das war allerdings noch vor dem Brexit, den die Mehrheit in Schottland bei der Volksabstimmung 2016 ablehnte.

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